Sonntag, 30. Mai 2010

Vivaldi: Concerti per fagotto, archi e continuo (Tactus)

Vivaldi schrieb mehr Konzerte für Fagott als beispielsweise für Flöte oder Oboe. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn das Instrument erklang seinerzeit fast ausschließ- lich als Teil des Basso continuo; verwendete es ein Komponist bei einer Arie als obligates Instru- ment, dann war das schon fast ein Ereignis. 
Musikwissenschaftler mögen rät- seln, wieso fast 40 Fagottkonzerte Vivaldis überliefert sind - wir dürfen uns über sieben davon freuen, denn Roberto Giaccaglia, Solofagottist am Teatro La fenice in Venedig, hat sie gemeinsam mit dem Ensemble Respighi für Tactus eingespielt. Und wie es aussieht, ist die Weiterführung dieser Aufnah- men geplant. 
Das erscheint durchaus lohnenswert, denn Vivaldis Konzerte für Fagott, Streicher und Basso continuo sind hübsche kleine musika- lische Kabinettstücke. Auch wenn Vivaldi selber Geiger war, wusste er offensichtlich doch genau um die Grenzen und Möglichkeiten des Instrumentes, das damals noch etwas anders aussah als heute - und auch anders klang. Die Musik, die er dafür schuf, ist teilweise hochvirtuos. Die langsamen Sätze sind sanglich, und oft elegisch bis melancholisch eingefärbt. 
Auch Giaccaglia und das Ensemble Respighi spielen sehr hörenswert, so dass man sich auf die Fortsetzung dieser Reihe freuen darf.

Bach: Jesu, meine Freude - Motets (Ramée)

Bachs Motetten, gesungen von den Sette Voci, einer Gruppe Vokal- solisten, die seit 2001 gelegentlich gemeinsam musiziert. Peter Kooij, der Leiter des Ensembles, ist ein ausgewiesener Experte für Alte Musik.
Insofern verwundert diese Auf- nahme. Denn hier wird gesungen, wie man das kaum für möglich hält: Wunderschön, aber zugleich glatt und kalt wie polierter Marmor. 
Zwar ist im - wie immer hoch- interessanten und mit viel Aufwand und Liebe zusammengestellten - Beiheft nachzulesen, dass Barockmusik eine rhetorische Kunst ist. Vokalmusik jener Zeit hat also in erster Linie die Funktion, den Text zu transportieren und auszulegen. Doch davon ist bei dieser Einspielung nichts zu spüren. Und zusätzlich zum undifferenzierten Schöngesang setzt Kooij noch eine Intrumentalbegleitung ein; die Orgel spielt durchweg Generalbass mit. Das ist nicht gerade spannend. Die Aufforderung "Lobet den Herrn, alle Heiden" hört man gern auch etwas weniger perfekt - aber dafür mit Leidenschaft gesungen.

Samstag, 29. Mai 2010

Letztes Glück - Singer Pur (Oehms Classics)

Kaum war er dem Matsch unge- pflasterter, löchriger Straßen und den finsteren, klammen "ländli- chen" Unterkünften entronnen, kaum musste er nicht mehr vom Sonnenaufgang bis zum Sonnen- untergang schuften, wenn er nicht verhungern wollte, da ward es dem Menschen so seltsam, so nostal- gisch zumute. 
Er sehnte sich zurück in die gute alte Zeit, da er noch in den Kreis- lauf der Jahreszeiten eingebunden war - und je heller und wohlbeheiz- ter seine Stadtwohnungen wurden, je mehr Zeit er mit Geselligkeit statt mit Brotverdienst beschäftigt war, desto mehr wuchsen offenbar sein Unbehagen und seine Sehnsucht. 
Die meisten Lieder der Romantiker schwärmen für die Natur: "O Täler weit, o Höhen", begeisterten sich die Leute nach Feierabend im Phil- harmonischen Chor. "Leblos gleitet Blatt um Blatt / still und traurig von den Bäumen; / seines Hoffens nimmer satt, / lebt das Herz in Frühlingsträumen. // Noch verweilt ein Sonnenblick / bei den späten Hagerosen, / wie bei einem letzten Glück, / einem süßen, hoffnungslosen." Die Sangeskunst verlässt die Räume, in denen die Standesgesellschaft sie eingeschlossen hatte. Sie gibt sich volkstüm- lich, und wird zum Medium der Patrioten, die sich in Turn- und Gesangsvereinen, Liedertafeln und Burschenschaften sammeln. Noch heute sind viele jener Liedsätze von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Johannes Brahms, aber auch von Friedrich Silcher so bekannt, dass man sie mitsummen könnte.
Die schönsten Preziosen aus dieser Zeit versammelt die vorliegende CD, vorgetragen makellos und im typischen Singer-Pur-Sound - damit leider aber auch wenig variantenreich. Der Aufnahme fehlt jene winzige Prise dynamische Würze, die aus einer guten eine exzellente Einspielung macht. Schade.

Freitag, 28. Mai 2010

Paganini/Schumann: 24 Caprices for Violin Solo (MDG)

"Jedes dieser Werke behandelt einen speziellen technischen Stoff und stellt gleichzeitig eine zweck- dienliche Studie sowie musikali- sche Kostbarkeit und gehaltvolle Komposition dar. Diese ständigen Begleiter des Geigers bilden zusammen mit den sechs Sonaten und der Partita von Bach den Grundstock des Übungsmaterials für den Geiger, seine Bibel, sein Altes und Neues Testament. Mit ihren hohen Anforderungen vermitteln sie jene Inspiration und Energie, die uns zwingen, unserem wundervollen Instrument seine letzten Möglichkeiten abzuringen." Das schrieb Yehudi Menuhin im Geleitwort zur Faksimile-Ausgabe des Paganini-Autographs über die 24 Capricen - und besser lässt sich das Wesen dieser Stücke kaum beschreiben. 
Sie sind "den Künstlern" - "agli Artisti" - gewidmet, und waren nicht nur den Violinisten vieler Generationen eine Inspirationsquelle. Auch zahlreiche Komponisten, von Franz Liszt über Sergej Rach- maninow bis hin zu Witold Lutoslawski waren von dem Werk sehr angetan, und würdigten seine Musik in ihrem Schaffen. Am Oster- sonntag 1830 erlebte Robert Schumann Paganinis Konzert in Frankfurt. Er zeigte sich schockiert, weil das Auftreten des Virtuosen so gar nicht zu seinen Vorstellungen von der "grossen, edeln priester- lichen Kunstruhe" passte - und inspiriert, wie sein Lebenswerk beweist. Da finden sich neben Variationen zum Glöckchenthema - begonnen, aber nie vollendet - diverse Capricen für Klavier, das sechzehnte Stück aus Carnaval sowie die Klavierbegleitung zu den Violin-Capricen, geschrieben für seinen Freund Joseph Joachim. Begonnen hat sie Schumann noch zu Hause. Vollendet hat er sie in der Psychiatrie; Clara Schumann erhielt das Manuskript nach seinem Tode, und lange Jahre blieb es unter Verschluss - bis es 1941 Georg Schünemann publizierte.
Schumanns Klavierpart reicht über eine bloße Harmonisierung weit hinaus. Mitunter ergänzt er Paganinis Melodien, manchmal führt er auch seine Ideen weiter. Auf dieser CD spielt daher die Pianistin Lisa Smirnova eine erstaunlich dominante Rolle. Trotz Stradivari und zahlreichen Preisen kann Benjamin Schmid da leider nicht ganz mithalten; er spielt zu brav, zu unscheinbar, und zu sehr nur mit. Aus diesem Grunde enttäuscht mich diese CD - was mir bei einer Aufnahme aus dem Hause Dabringhaus und Grimm eigentlich noch nie passiert ist.

Beethoven: Piano Sonatas (Hyperion)

Steven Osborne, Jahrgang 1971, gehört zweifellos zu den besten Pianisten seiner Generation. Für diese CD hat er aus der großen Zahl Beethovenscher Klavierwerke vier ausgewählt: Mondscheinsonate, "Pathétique" und Waldstein-Sonate sowie die Klaviersonate in G-Dur op. 79, die weniger bekannt ist, sich aber auch als sehr reizvoll er- weist. 
Der Pianist beeindruckt durch sein expressives, wohlüberlegtes und ausgesprochen differenziertes Mu- sizieren. So macht er Details hörbar, die einem noch nie aufgefallen waren - und kleidet "seinen" Beethoven in Klangfarben weit abseits vom Mainstream. Die Sonate in cis-Moll op. 27 Nr. 2, die dem Kritiker Ludwig Rellstab wohl ihren romantischen Beinamen verdankt, beispielsweise nimmt Osborne sehr ruhig und zugleich flüssig.Von dem üblichen Pathos im ersten Satz keine Spur; der Pianist spielt hier so gleichmäßig, dass es dem Zuhörer fröstelt ob der ungeheuren Aura dieser Musik. Es ist die klanggewordene Einsamkeit; wenn man etwas tröstliches außerhalb der reinen Melodie sucht, dann mag man sich den Vollmond dazu denken. Das konzentrierte, tiefgründige Spiel Osbornes aber gibt dazu keinen Anlass.
Vollkommen anders ist der Charakter der Sonate in C-Dur op. 53, Waldstein-Sonate genannt. Osborne nimmt sie dramatisch und optimistisch zugleich; sie endet, nachdem Beethoven den Pianisten über die gesamte Tastatur und durch nahezu jede Finesse der zeitgenössischen Klavier-Kultur gejagt hat, mit triumphierenden Fanfaren. Furios! Meine unbedingte Empfehlung.

Grand Sonatas for Flute (Genuin)

Der Titel dieser CD trügt. Denn von den drei Sonaten, die Hans-Udo Heinzmann und Elisaveta Blumina hier eingespielt haben, wurde nur eine ursprünglich für Flöte kompo- niert. Gabriel Pierné (1863-1937), ein Zeitgenosse Faurés, Debussys und Ravels, schrieb seine Sonate op 36. eigentlich für den Geiger Jacques Thibaud. Das freilich will man kaum glauben, wenn man die Fassung für Flöte und Klavier hört. Das Werk verlangt vor allem dem Pianisten einiges ab. Denn wie ein Sonnenstrahl, der sich in kleinen Wellen spiegelt, schwebt die Flöte über dem Klangteppich des Klaviers, hochvirtuos gestaltet von Elisaveta Blumina. Auch Hans-Udo Heinzmann begeistert durch sein farbenreiches, differenziertes Spiel. 
Leider merkt man dem zweiten Stück, der Sonate d-Moll op. 21 von Niels Wilhelm Gade (1817-1890) ihre Herkunft von der Violine doch deutlich an. Gade war ein Freund Schumanns, und kurzzeitig Mendelssohns Nachfolger am Gewandhaus. Dem vom romantischen Geist durchtränkten Werk vermag ich wenig abzugewinnen. 
Die Sonate D-Dur op. 94 von Sergej Prokofjew hingegen erweist sich als echte Entdeckung. Denn sie war mir bislang nur als Violinsonate geläufig. Dass dieses heitere Werk mit seinen klaren, doch nur scheinbar schlichten Strukturen ursprünglich für Flöte entstanden ist, erweist sich als erfreuliche Überraschung.

Donnerstag, 27. Mai 2010

Neapolitan Flute Concertos (Hyperion)

Ein ganz bezauberndes Flöten- konzert von Niccolò Jommelli, flankiert von Werken seiner Zeitgenossen, die ebenfalls aus Neapel stammten oder dort einst gewirkt haben.
Diese Konzerte von Giuseppe de Majo, Gennaro Rava, Tommaso Prota und Antonio Palella sind sich in manchen Passagen verblüffend ähnlich; die Komponisten schrieben im Stile jener Zeit, und sie gehören eher nicht zu den bedeutenden Meistern.
Dennoch sind die Stücke charmant und ausgesprochen gut anzu- hören. Das liegt nicht zuletzt am wunderschönen, dunklen und samtweichen (Barock-)Flötenton von Carlo Ipata, der sie mit seinem Ensemble, den Auser Musici, sehr engagiert eingespielt hat.

Dienstag, 25. Mai 2010

Pleyel: 6 Duos for 2 Violins (Hungaroton)

Ignace Joseph Pleyel (1757 - 1831) war nur ein Jahr jünger als Mozart, aber ein Musikunternehmer vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Lebens- werk erscheint gigantisch. Den wechselnden Umständen seines Lebens konnte er immer einen Fortschritt in seiner persönlichen und künstlerischen Entwicklung abgewinnen.
So wurde er auch in Paris, wo er sich letztendlich niedergelassen hatte, bald zu einer zentralen Figur des musikalischen Lebens. Er war Komponist, Kapellmeister, Musikverleger, Musikalienhändler, Klavierfabrikant, Musikpädagoge und sogar Konzertveranstalter in einer Person.
Die Sechs Violinduos op. 23, B 513-518, entstanden vor Pleyels Umzug nach Paris, in seinen fruchtbaren Strassburger Jahren. Vilmos Szabadi und Béla Bánfalvi haben sie für Hungaroton Classic liebevoll erstmals eingespielt. Das lohnt sich durchaus, denn die Duette erweisen sich als ebenso charmante wie anspruchsvolle Stücke mit virtuosen, stürmischen Passagen und bezaubernden, gefühlvollen Kantilenen. Geschrieben wurden sie wahrscheinlich für die gehobene Hausmusik. Sie sind aber keine musikalische Meterware; sie atmen vielmehr Haydnschen Geist und Witz - was kein Zufall ist, denn Pleyel war Haydns Schüler, und die beiden Komponisten waren zudem zeitlebens eng befreundet.

Mozart: Phantasia. Music for Basset Clarinet, Viola and Fortepiano (Ramée)

Es ist überliefert, dass Mozart die Flöte nicht mochte. Dafür aber gefiel ihm offenbar der Klang der Klarinette, über den ein Zeitgenos- se Mozarts schrieb, er sei "in Liebe zerflossenes Gefühl - so ganz der Ton des empfindsamen Herzens". An dieser Beschreibung scheint uns Mozart nicht ganz unschuldig zu sein, denn in seinen Werken bringt er den Klang der Klarinette zum Strahlen. Seine Kompositio- nen gaben dem Instrument einen Platz jenseits der damals üblichen Orchesterparts und der Harmoniemusik.
Mozart war mit dem böhmischen Klarinettenvirtuosen Anton Stadler eng befreundet war, und  schrieb zahlreiche Stücke für ihn. So auch das Trio für Klarinette, Viola und Klavier Es-Dur KV 498, das aus unerfindlichen Gründen bis heute als Kegelstatt-Trio bekannt ist. Dabei handelt es sich um anspruchsvolle Hausmusik, wie sie damals in Wien nicht ungewöhnlich war. Auch wenn sich heute wohl nur noch Profis an solche Werke wagen - den Klavierpart schuf der Komponist für seine Schülerin Franziska von Jacquin, in deren Hause das Werk dann offensichtlich auch erklungen ist. Die Bratsche dürfte Mozart selbst gespielt haben. 
Wie virtuos die Damen der "gehobenen Stände" das Pianoforte be- herrschten, das zeigt auch das zweite Werk auf dieser CD: Die Fantasie c-Moll KV 475 schrieb Mozart für Maria Theresa von Trattner, die Frau eines bedeutenden Wiener Verlegers, Druckers und Buchhänd- lers. Die Mozarts wohnten zur Miete in ihrem hochherrschaftlichen Hause, dem Trattnerhof. Die beiden Familien verkehrten freund- schaftlich miteinander; von Trattners waren Taufpaten für vier Mozart-Kinder. 
Das dritte und letzte Werk, die Grande Sonate pour Le Piano-Forte avec accompag. d'un Clarinette ou Violon obligé, erweist sich als eine Bearbeitung von Mozarts Klarinettenquintett A-Dur KV 581 für Pianoforte und Bassettklarinette. Sie wurde in der British Library aufgefunden - und erwies sich als eine hochinteressante Quelle, weil das Manuskript von Mozarts berühmtem Klarinettenquintett verloren ist, und die gedruckten Ausgaben einschließlich der Neuen Mozart-Ausgabe nachweislich mangelhaft sind. "Neben der Erstein- spielung der Grande Sonate war unser Hauptanliegen, mit dieser CD zu zeigen, dass wir uns hinsichtlich der ,Lektüre' von Mozarts Parti- turen noch immer in einem Lernprozess befinden", unterstreichen Anneke Veenhoff (Hammerklavier) und Nicole van Bruggen (Klarinette). Den Bratschenpart im Kegelstatt-Trio übernahm Jane Rogers.
Die Musikerinnen setzen aber nicht nur auf die Originalmanuskripte und auf Nachbauten historischer Instrumente, um sich Mozarts Musik anzunähern. Sie haben die gesamte CD zudem in einer histo- rischen Stimmung, der sogenannten Temperierung nach Prelleur, eingespielt. Der Unterschied ist ganz erstaunlich; insbesondere die Klangfarben der Fantasie erscheinen wie von einem Grauschleier befreit, und klangliche Nuancen werden hörbar, die man sehr erfreut zur Kenntnis nimmt.

Freitag, 21. Mai 2010

Great Violinists: Kreisler (Naxos)

Fritz Kreisler (geboren 1875 in Wien, gestorben 1962 in New York) gehört ohne Zweifel zum Kreise der ganz großen Violin- virtuosen. Aufgewachsen mit der Wiener Musiktradition, unter- wiesen von den besten Lehrern im Geigenspiel ebenso wie im Komponieren, schrieb und spielte Kreisler neben dem üblichen Repertoire ebenso hübsche wie nostalgische Miniaturen. Er stellte sie aber zunächst nicht als seine eigenen Kompositionen, sondern als Werke von bekannten Barockkomponisten vor. Beim Publikum und bei der Musikkritik kamen diese Charakterstücke sehr gut an. Als er dann 1935 erklärte, dass diese "Barock"werke seiner Phantasie entsprungen sind, gab dies einen veritablen Skandal.
Heute kann man darüber schmunzeln. Denn noch immer spielen Geiger gern Kreislers Stücke, die er dem Stil von Couperin, Boccherini, Dittersdorf und etlichen anderen so perfekt angepasst hat, dass man sie seinerzeit für Originale hielt. Auch seine Stücke im "Altwiener Stil", wie Liebesfreud, Liebesleid oder Schön Rosmarin, gehören durchaus zum Repertoire eines jeden Violinisten, und einige Stars, wie Nigel Kennedy, haben diese charmanten Salonstücke sogar eingespielt.
Wie aber haben sie geklungen, wenn Kreisler selbst sie vorgetragen hat? Auch wenn der Violinist sich nach einem Verkehrsunfall 1941 aus dem Musikleben zurückzog, existieren erstaunlich viele Aufzeichnungen, die sein Spiel überliefern. So enthält die vorliegende CD 16 Aufnahmen, die Kreisler 1911 gemeinsam mit dem Pianisten Haddon Squire bei der Gramophone Company in London, und weitere acht Werke, die er 1912 mit George Falkenstein für die Victor Talking Machine Co. in New York eingespielt hat.
Eingebettet in nostalgisches Knistern, hört man seinen Vortrag, der sich durch einen warmen, kultivierten, farbenreichen Ton aus- zeichnet. Er zitiert durchaus hier und da - so beispielsweise bei Brahms' Ungarischem Tanz Nr. 5 - das Spiel eines Zigeunerprimas, aber er imitiert es nicht. Sein bemerkenswerter Sinn für stilistische Feinheiten, der ihm die musikalische Maskerade ermöglicht hat, verhindert auch beim Musizieren das Abgleiten in Virtuosen- mätzchen, wie Glissandi, übermäßige Rubati und was dergleichen noch seinerzeit üblich war. Aus diesem Grunde ist diese CD nicht nur als historisches Dokument interessant, sondern auch wirklich hörenswert. 

Donnerstag, 20. Mai 2010

Brahms: A German Requiem (LPO)

Brahms' "Ein deutsches Requiem" in einer bemerkenswerten Ein- spielung. Über die musikalischen Qualitäten des London Philhar- monic Orchestra and Choir zu schreiben, das hieße wohl Eulen nach Athen tragen. Aber über diese Aufnahme ist durchaus etwas zu berichten.
Denn Dirigent Yannick Nézet-Séguin liest "seinen" Brahms höchst konsequent: Er nimmt das Werk ganz erstaunlich langsam und dynamisch außerordentlich differenziert - und baut so enorme Spannung auf. Er beginnt im Pianissimo, und steigert dann, bis zum Fortissimo im zweiten Satz (Denn alles Fleisch, es ist wie Gras). Das Orchester ist phantastisch. So wie hier habe ich eine Pauke noch nie gehört, da wird jeder Schlag auf den Punkt präzis und in höchst unterschiedlicher Lautstärke placiert. Hier ist wirklich jeder Akzent durchdacht, und jede einzelne musikalische Phrase wird sorgsam gestaltet. Auch der Chor bewältigt seinen Part höchst souverän; er hat in jeder Situation ausreichend Reserven. Und die Solisten Elizabeth Watts und Stéphane Degout singen solide. Kurz und gut: Diese Aufnahme kann empfohlen werden.

Mittwoch, 19. Mai 2010

Chopin: The Nocturnes; Freire (Decca)

Nelson Freie spielt Chopin - Decca legte kürzlich gleich drei CD vor: Eine im Dezember 2009 einge-spielte Doppel-CD mit den Noctur- nes, und eine weitere mit den Étu- des op. 10, der Barcarolle op. 60 und der Sonate Nr. 2 in b-Moll,
op. 35 in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 2004. Was aus den Lautsprechern kommt, das ist eine Überraschung. Zum einen, weil der Steinway klanglich in der Aufnah- me sehr schön erfasst wird. Zum anderen aber liegt es an Freires abgeklärtem Spiel, das zwar durchaus virtuos ist, aber auf gar zu vordergründige Mätzchen verzichtet. Das bedeutet freilich noch nicht, dass die Aufnahmen durchweg erstklassig sind.
Freire spielt Chopin mit sehr viel Wärme und Sensibilität, mit Sinn fürs Lyrische ebenso wie mit musikalischem Verständnis. Er über- rascht mit manch interessanter Nuance in seiner Gestaltung; aller- dings wählt er mitunter Tempi, die zu Lasten der Sorgfalt und der musikalischen Präzision gehen. Da wird dann schon einmal verwischt und übertüncht, wo man sich klare Strukturen und Gestaltung wünschen würde. Schade. Das gilt für einige der Etüden ebenso wie für die Barcarole, die er ziemlich brachial in Fahrt bringt. Auch über seine Interpretation der Sonate ließe sich trefflich streiten. Mich jedenfalls machen diese Aufnahmen nicht vollkommen glücklich.

Montag, 17. Mai 2010

Ponchielli: Chamber Music (MDG)

Amilcare Ponchielli (1834 - 1886) ist uns heute nur noch als der Komponist der Oper La Gioconda bekannt. Seine anderen Werke sind in Vergessenheit geraten - was möglicherweise sehr schade ist. Darauf jedenfalls deutet diese CD aus dem Hause Dabringhaus und Grimm hin.
Nicht Opern, sondern einige kleine Stücke für Bläser hat das Ensemble Villa Musica hier eingespielt. Sie entstanden wohl für die bande, Blaskapellen, in Piacenza und Cremona, die Ponchielli in jungen Jahren leitete. Sie zeigen ihn als einen Komponisten mit Witz und sicherer Hand für Effekte - und mit ganz erstaunlichem Gespür für die Klangfarben, Stärken und Grenzen der einzelnen Blasinstrumente.
Auch diese Werke gleichen Opernszenen, doch statt der Sänger treten Klarinette, Flöte, Oboe und sogar einmal eine Violine auf. Man erlebt Rede und Gegenrede, Rezitative und Arien, terzenselige Ensembles - bis zum rasanten, virtuosen Finale. Das Divertimento für zwei Klarinetten und Piano Il Convegno - "Die Verabredung" - zeichnet ein Gespräch zweier Verliebter nach. Paolo e Virginia verweist auf einen Roman, der das Schicksal zweier Kinder schildert, die gemeinsam in den Kolonien aufwachsen und füreinander bestimmt scheinen - bis eine Verwandte kommt, das ranghohe Mädchen nach Frankreich zu holen, um es dort standesgemäß zu verheiraten. Selbstverständlich endet die Geschichte im Desaster. Musikalisch findet die Distanz zwischen den beiden Liebenden ihren Ausdruck in der Besetzung mit einer Klarinette und einer Violine, und auch hier begleitet das Klavier. Ganz besonders faszinierend ist das Capriccio für Oboe und Klavier, phantastisch vorgetragen von Ingo Goritzki und Chia Chou. Schon der erste Ton ist ein Gedicht - und ebenso delikat spielt Goritzki den höchst anspruchsvollen Rest auch. 
Dass Ponchielli die technischen Möglichkeiten und die Klangfärbung der einzelnen Instrumente effektvoll einzusetzen weiß, zeigt sein Quartetto für Flöte, Oboe, Klarinette in Es und Klarinette, erneut begleitet vom Klavier. Und natürlich wollte das Ensemble Villa Musica auch das berühmteste Stück Ponchiellis spielen - das Ballett Danza delle Ore, "Tanz der Stunden", aus dem dritten Akt von La Gioconda. Aus diesem Grunde ließen sich die Bläser von Andreas Tarkmann eine Harmoniemusik schreiben - ein Verfahren, das zu Ponchiellis Zeiten absolut gebräuchlich war. Diese Bearbeitung für Bläseroktett plus zusätzliche Flöte und Kontrabass ad libitum gibt jeder Instrumentengruppe Gelegenheit zum Brillieren - was die durchweg exzellenten Musiker mit Charme und mit einem Augen- zwinkern nutzen.

Sonntag, 16. Mai 2010

Chopin: Sonata No. 2 / 24 Preludes; Tysman (Oehms Classics)

Aus der Flut der Chopin-Veröffent- lichungen zum Chopin-Jahr 2010 ragt diese hier deutlich heraus:
Die französische Pianistin Hélène Tysman, Jahrgang 1982, gibt seiner Musik den Atem zurück; sie prüft die Noten, und musiziert dann mit einer Freiheit, die einen nach all den D-Zug-Interpretatio- nen und all dem seelenlosen Salon- geklimper ebenfalls durchatmen und aufhorchen lässt. 
"Er hat sie Sonate genannt", läster- te Schumann einst über Chopins Sonate b-Moll op. 35, "man könnte dies als eine Laune, ja eine An- maßung bezeichnen, denn er hat vier seiner extravaganten Kinder zu einer Bande zusammengestellt, um sie so durchzuschmuggeln." Die musikalische Substanz ist in der Tat verblüffend. Nach dem ersten Satz, dessen Zeitmaß Chopin einst selbst "Allegro" nannte, erklingt erst ein Scherzo - und dann der berühmte Trauermarsch, gefolgt von einem rasanten, extrem kurzen und auch brachialen Finale. 
Dieses bekannte Stück ergänzt Tysman dann um die 24 Préludes op. 28, jenes geheimnisvolle Werk, über das Generationen von Pianisten und Musikwissenschaftlern mehr oder weniger gescheite Aufsätze publiziert haben. Tysman ficht das nicht an. Sie nimmt die Préludes nicht als Rätsel, die zu entschlüsseln sind, sondern als Musik, die zum Klingen gebracht werden will. Und spielt jedes einzelne davon so, wie sie es aufgezeichnet findet. 
Es ist verblüffend, wie sie die Balance hält zwischen ihrer unbestech- lichen Treue zu Chopins Noten und jener Freiheit der Phrasierung, die seine Musik zum Leben erweckt. So spielt sie die Préludes nicht als mechanische Bravourstücke, sondern - frei nach Couperin - als freie Kompositionen, in denen Chopin einst versuchte, das Wesen der Musik zu ergründen. Sie nimmt sich die Zeit, die sie benötigt, seinen Ideen nachzuhören. Und sie setzt eine ganze Palette an Klangfarben ein. Sie spielt mit Energie, sie gestaltet jedoch auch feinste Nuancen. Man staunt, wie lebendig, frisch und modern Chopin klingen kann. Und man lauscht gespannt, bis der letzte Ton verklungen ist.

Brahms: Sonatas for Viola and Piano (Naxos)

Werke, mit denen Violisten "ihr" Instrument präsentieren können, sind rar. Schreibt der Komponist für hohe Streicher, dann schreibt er für Violine. Wünscht er tiefe Streicher, dann denkt er üblicher- weise an den sonoren Klang des Violoncellos.
Exemplarisch sichtbar wird dies an der Sonate für Klavier und Violine Nr. 1 G-Dur, op. 78, von Johannes Brahms. Der Komponist muss dieses Werk sehr geschätzt haben; nicht umsonst entschied er, dass diese Sonate bei der Beisetzung von Clara Schumann erklingen soll. Und noch in demselben Jahr schuf Brahms eine Bearbeitung des  Werkes in D-Dur für Violoncello und Klavier, der veränderten Klang- welt penibel angepasst.
Auf dieser CD spielt Roberto Díaz das Stück auf der Viola, gemeinsam mit Jeremy Denk am Klavier. Diese Fassung stammt von Csaba Erdélyi, der die beide Brahms'schen Varianten genutzt hat, um aus- schließlich mit den musikalischen Ideen des Meisters daraus eine weitere Version zu kompilieren - ebenfalls in D-Dur, nur eben in der Mittellage. Das Ergebnis vermag, verglichen mit den Originalen, leider nicht wirklich zu überzeugen. Denn in der Höhe fehlt der Bratsche der strahlende Klang, und in der Tiefe das Volumen. Auch gegen den Flügel gibt das nicht genug Kontrast.
Brahms aber hat zwei Sonaten für Klavier und Klarinette oder Viola in f-Moll und Es-Dur, op. 120, geschrieben. Sie wirken in einigen Passagen ganz erstaunlich modern. Man horcht auf und wundert sich - diese Musik soll wirklich schon über hundert Jahre alt sein?

Samstag, 15. Mai 2010

If Haydn had written for Oboe (Caro Mitis)

"Seit einiger Zeit beginne ich mein Tagewerk mit einem reizenden Morgensegen", so schrieb der Komponist, Pianist und Dirigent Ferdinand Hiller vor 130 Jahren, "ich lese täglich ein Quartett von Haydn, - dem frommsten Christen kann ein Capitel aus der Bibel nicht wohler thun." Eine solche Lektüre hätte wohl auch den Machern dieser CD gut getan - denn Haydn hat sehr wohl für Oboe "geschrieben".
Die Sinfonia Concertante
Hob. I:105 für Violine, Cello, Oboe und Fagott gehört sogar zu den bekannten Stücken des Komponisten. Anders als beim Konzert für Oboe und Orchester C-Dur Hob. VIIg:C1, als deren Urheber mittler- weile Leopold Kozeluch vermutet wird, ist hier auch die Autorschaft unumstritten. Und es ist kaum zu vermuten, dass dem russischen Oboisten Alexej Utkin, der die Bearbeitungen für diese CD schuf, Haydns Sinfonia Concertante unbekannt ist. 
Warum also dieses Verwirrspiel, ganz im Stile der Regenbogenpresse? Man schüttelt genervt den Kopf - und hört sich die CD an. Sie beginnt mit dem Doppelkonzert F-Dur für Violine und Cembalo Hob. XVIII:6, wobei Utkin den Part des Tasteninstrumentes der Oboe überträgt. Das kann man durchaus so machen, auch wenn sich die Klangfärbung des Werkes dadurch extrem verändert. 
Es folgt das Quartett F-Dur Hob. III:48 - eines der Preußischen Quartette, bekannt unter dem Titel "Der Traum". Hier übernimmt die Oboe die Stimme der zweiten Violine; der Einsatz eines Cembalos macht zudem deutlich, dass Utkin das derart modifizierte Werk ganz in barocker Tradition sieht. Haydn hätte zu diesem gewagten Schritt möglicherweise genickt; der langsame zweite Satz jedenfalls, Poco adagio, klingt mit Oboe wirklich nett. Aber mir persönlich gefällt das Werk in seiner Originalversion besser.
Abschließend erklingt das Violinkonzert G-Dur Hob. VIIa:4, transkri- biert für die Oboe; technisch durchaus anspruchsvoll, und an Witz und Einfallsreichtum ein typischer Haydn. Alexej Utkin wird begleitet durch das von ihm gegründete und geleitete Hermitage Chamber Orchestra; obwohl sich aber die Eremitage in Petersburg befindet, hat dieser Klangkörper seinen Sitz in Moskau. 
Insgesamt hinterlässt die CD einen schalen Eindruck. Das ist alles ganz hübsch, aber nicht überragend. Und das Marketing lässt dann eher schaudern - Prädikat: Mehr Schein als Sein. 

Tchaikovsky: The Seasons (Genuin)

Die Jahreszeiten schrieb Pjotr Iljitsch Tschaikowski 1876 für einen Petersburger Verleger: Nikolai Bernard wünschte sich einen Zyklus aus zwölf Klavier- miniaturen , um sie als "musi- kalische Beilage" zu seiner Monatsschrift Nouvelliste zu publizieren.
Es handelt sich um hübsche kleine Skizzen, die - ähnlich den Charak- terstücken Schumanns - jeweils
ein typisches Bild zum Monat zeichnen. Zur Inspiration dienten dem Komponisten russische Gedichte, die ihm der Verleger aus- suchte. Das Jahr beginnt ruhig und idyllisch am Kamin, der Wärme und Geborgenheit spendet. Im Februar sorgt der Karneval für Trubel, und im März kündigt das Lied der Lerche bereits den Frühling an. Es gibt Schneeglöckchen im April, Weiße Nächte im Mai, einen geradezu magischen Sternenhimmel im Juni, Ernte und Jagd, Blätterfall und wilde Ausfahrten mit der Troika - und ganz zum Schluss, im Dezem- ber, zeigt sich schon die Vorfreude auf das Weihnachtsfest.
Aus unerfindlichen Gründen gehören diese schönen Stimmungsbilder sowohl im Konzertsaal als auch auf CD eher zu den Raritäten. Die Deutsche Streicherphilharmonie spielt eine Bearbeitung der Jahres- zeiten für Streichorchester von David Geringas und Leonid Schatz. Diese Aufnahme entstand im September vergangenen Jahres.
Tschaikowskis Stücke erweisen sich als sehr poetisch und stimmungsvoll - und die jungen Musiker als technisch versiert.  Das ist keineswegs selbstverständlich, denn die Deutsche Streicherphil- harmonie ist der Nachfolger des Deutschen Musikschulorchesters, und dieses wiederum war nach der Wiedervereinigung aus dem Rundfunk-Musikschulorchester der DDR hervorgegangen. Auch wenn die musikalische Ausbildung in ihrer Breite längst nicht mehr das Format hat, das sie seinerzeit zumindest im "Arbeiter-und-Bauern-Staat" hatte - in der Spitze ist sie offensichtlich nach wie vor exzellent. Denn die Deutsche Streicherphilharmonie klingt an keiner Stelle nach "Schulorchester"; die Kinder und Jugendlichen musizieren unter ihrem ständigen Dirigenten Michael Sanderling hochprofessionell. Sie beeindrucken insbesondere durch die Homogenität des Klanges wie durch ihr blitzsauberes, dynamisch differenziertes Spiel.
Das gilt auch für die Rumänischen Volkstänze und die Tänze aus Siebenbürgen - Volksmusik, gesammelt (und ein bisschen bearbeitet) von Béla Bartók. Für mitteleuropäische Ohren sind diese Stücke schon etwas gewöhnungsbedürftig, aber mit ihren Balkan-Harmonien und mitunter komplexen Rhythmen nicht ohne Reiz. Die Einspielung dieser Werke stammt aus dem Jahre 2005. 
Und damit auch jedem Zuhörer klar wird, dass es sich bei den jungen Musikern keineswegs um Streber und Streich-Idioten handelt, gibt's eine Bonus-CD - noch einmal die Jahreszeiten, aber diesmal mit mehr oder minder launigen Versen zum Werk, aufgeschrieben und auch gesprochen von Orchestermitgliedern.

Montag, 10. Mai 2010

Wunderkind - Mendelssohn Piano Quartets (Deutsche Grammophon)

Felix Mendelssohn Bartholdy war mehrfach zu Gast im Hause Goethe. Als Zwölfjähriger wurde er erst- mals durch seinen Lehrer Zelter bei dem Geheimen Rat vorgeführt, wo man ihn sorgsam prüfte - und bestaunenswert fand. Insbesondere das Klavierspiel und die Klavierquartette des Knaben beeindruckten die Weimarer. 
Zwei dieser Jugendwerke hat das Fauré Quartett hier eingespielt - das dritte Klavierquartett, eigentlich bekannt als Quartett
Nr. 2 f-Moll op. 2 (MWV Q 13), Zelter zugeeignet, und das vierte und letzte, Nr. 3 h-Moll op. 3 (MWV Q 17), gewidmet Goethe. 

Erika Geldsetzer, Violine, Sascha Frömbling, Viola, Konstantin Heid- rich, Violoncello und Dirk Mommertz am Flügel nehmen die Stücke mit Temperament und Esprit. Sie kommen federleicht daher, wie kleine Wölkchen am Junihimmel. Doch Vorsicht, diese Dingerchen haben es erstaunlich in sich. "Dieses ewige Wirbeln und Drehen führt mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen", meinte Goethe seinerzeit zum dritten Satz "seines" Quartettes. Die Musiker wahren die Balance, und zeigen uns zwei wunderhübsche, poetische Werke, die man wieder und wieder hören möchte.

Samstag, 8. Mai 2010

Clementi: Early Piano Sonatas Vol. 3 (Naxos)

Muzio Clementi, geboren 1752 in Rom, begann seine musikalische Ausbildung im sechsten Lebens- jahr, und bekam schon im Kindes- alter die erste Anstellung als Organist. Der Mäzen Sir Peter Beckford sah das Talent des Knaben - und nahm ihn mit nach England, wo er eine solide Schulbildung erhielt und fleißig übte.
1774 begann er zu konzertieren, zunächst in London; später reiste er mehrfach durch Europa. An den Höfen war er gern gesehen; so arrangierte Joseph II. am Weihnachts- abend 1781 in der Wiener Hofburg ein Wettspiel zwischen Clementi und Wolfgang Amadeus Mozart. Am Ende dieses Jahrzehntes stand er in einem ausgezeichneten Ruf als Pianist, und zunehmend auch als Musikpädagoge. Seine Klavierschule Introduction to the Art of Playing on the Piano Forte gilt bis heute als Standardwerk, und seine Sonatinen Op. 36 sowie die Sammlung Gradus ad Parnassum werden von angehenden Pianisten noch immer geschätzt und studiert. Beethoven beispielsweise verehrte Clementi sehr, und Debussy eröffnet nicht ohne Grund seine Suite Children's Corner mit dem Stück Doctor Gradus ad Parnassum.
Wie perfekt Clementi die Tasteninstrumente seiner Zeit beherrschte, das zeigt die vorliegende Einspielung - und zugleich seinen schier unerschöpflichen Einfallsreichtum. Die Sonaten, die diese CD enthält, entstanden durchweg in den 1780er Jahren. Sie sind von beein- druckender Eleganz, verweisen aber zugleich in ihrer Ausdrucks- stärke und Dramatik bereits auf die Wiener Klassik - vor allem die Sonate in F-Dur, op. 13, Nr. 5 mit ihren Legato-Linien und ihren markanten Bässen. 
Susan Alexander-Max spielt die Werke Clementis auf einem Fortepiano nach Michael Rosenberger 1798. Dieses ausgesprochen klangschöne Instrument ermöglicht eine erstaunliche dynamische Differenzierung. So lassen sich einerseits rasante Arpeggios gestalten, wie auf einem Cembalo. Andererseits erlaubt das Instrument deutliche Akzente und ein Legato, das stellenweise bereits an das moderne Klavier erinnert. Das Spiel der New Yorker Spezialistin für Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist exzellent und begeistert vom ersten bis zum letzten Takt.

Verwandlung - Lieder eines Jahres. Karg/Kehring (Berlin Classics)

Die Sopranistin Christiane Karg und der Pianist Burkhard Kehring geben eine Lehrstunde in Sachen intelligente Liedgestaltung. Das Programm ist anspruchsvoll, aber auch ansprechend und abwechs- lungsreich: "Das Thema Jahres- zeiten hat mich schon immer fasziniert", erläutert Karg. "Wie kann man klirrende Kälte oder sengende Hitze musikalisch darstellen? Einem Vivaldi ist dies so wunderbar gelungen", meint die Sängerin. "Im Unterschied zu den Orchesterwerken haben wir im Lied das Gedicht, das die Basis der Komposition bildet und mit der Begleitung zu einer Einheit verwoben wird."  Die Auswahl der beiden Solisten reicht von Richard Strauss' Schlechtes Wetter über von Zemlinskys Frühlingstag, Brahms' Sommerabend bis hin zu Schuberts Herbst und Weberns Kahl reckt der Baum.
"Mir gefällt diese Möglichkeit, einen roten Faden innerhalb einer Thematik zu spannen, fernab von Komponist, Musikstil oder eines geschlossenen Opus. Es erfordert Freude am Basteln und kostet viel Zeit", sagt Karg. "Es gibt eine so große Anzahl von wunderbaren Stücken, die zu Unrecht völlig unbekannt sind. Und genau darum geht es mir, einzelne Preziosen, die oft auf den ersten Blick gar nicht als solche erkennbar sind, zu finden und mit anderen, bekannteren Stücken zu kombinieren."  Die Lieder zeigen den Menschen im Kreis- lauf der Natur - und in seinen Stimmungen zwischen glücklichem Überschwang und Melancholie.

Gustav Mahler und sein Klavier (Preiser Records)

Am 9. November 1905 spielte Gustav Mahler in Leipzig auf einem Welte-Klavier vier seiner Werke. Gestanzte Papierrollen dokumen- tierten jedes Detail des Vortrags, und ein pneumatischer Mechanis- mus ermöglichte die Wiedergabe der derart aufgezeichneten Musik entweder mit Spezialinstrumenten oder mit Hilfe sogenannter Vorsetzer, die vor ein beliebiges Klavier gestellt werden konnten.
Zwar ist die Firma Welte & Söhne schon lange untergegangen. Doch die meisten von den gut 5.500 Ein- spielungen auf Welte-Rollen sind noch aufzufinden, und auch Klaviere mit Welte-Mechanismus gibt es noch.
Für das vorliegende Tondokument aber hatte Preiser Records eine ganz besondere Idee: Mahler spielt Mahler auf Mahlers Flügel; dank Vorsetzer ist das technisch kein allzu großes Problem. Aber welcher Flügel ist Mahlers Flügel?
Preiser entschied sich für das Instrument, das Alma Schindler und Gustav Mahler 1902 zur Hochzeit bekamen: Einen Blüthner aus  diesem Jahr, mit kreuzsaitiger Bespannung, Blüthner-Patentmechanik und gusseisernem Jubiläumsrahmen, aber ohne Aliquotsaiten. Mahlers Witwe schenkte das Instrument 1948 der Stadt Wien; seit  1965 befindet er sich als Dauerleihgabe in der Sammlung alter Musik- instrumente in der Neuen Burg.
Die Aufnahmen dokumentieren den Stil der damaligen Zeit, inklusive kräftiger Zuspitzung, wo der Künstler etwas für wichtig hielt. So schärfte Mahler die Punktierungen im ersten Satz seiner Fünften Symphonie deutlich. Bei den Liedern springt er zwischen der Gesangsstimme und der Begleitung; er ergänzt sie um vollstimmige Akkorde und Basstöne, spielt nicht notierte Arpeggierungen und nachschlagende Melodienoten - und modifiziert das Tempo, wie ihm das jeweils angemessen erschien. Weniger wichtige Passagen nimmt Mahler oftmals flüchtig. Wer jemals in einem Provinztheater einen Korrepetitor bei der Arbeit erlebt hat, der wird davon nicht überrascht sein - und, bei allem Respekt, aber ein bisschen klingt die Aufnahme auch so. Wer sich mit historischer Musizierweise beschäftigt, der wird diese CD höchst interessant finden. 

Mittwoch, 5. Mai 2010

Wolfgang Bauer Consort - Musique baroque de Telemann ( K & K)

Der blitzsaubere Mitschnitt eines besonderen Konzertes im Kloster Maulbronn: Wolfgang Bauer, langjähriger Solo-Trompeter nam- hafter Orchester und seit nunmehr zehn Jahren Professor an der Stuttgarter Musikhochschule, spielt mit exzellenten Musiker- kollegen in kleinster Besetzung Werke von Georg Philipp Tele- mann. Es ist unglaublich, doch hier wird jeder Ton live gespielt - und trotzdem ist kaum ein Schnitzer aufzuspüren.
Zu erleben sind Dietlind Mayer und Petra Müllejans, Violine, Ludwig Hampe, Viola, Davide Vittone, Kontrabass, Georg Siebert und Ingo Goritzky, Oboe, Arie Hordijk, Fagott, Wolfgang Bauer, Tobias Ziegler und Martin Maier, Trompete, Gregor Daszko, Pauke, sowie Thomas Strauss am  Cembalo und Clemens Weigel am (Continuo-)Violoncello. Eine Sternstunde der Musizierlust, ganz phantastisch, stimmungsvoll und glänzend vom ersten bis zum letzten Takt. Bravi! 

Ida Haendel plays Tchaikovsky & Dvorak (Hänssler)

Ida Haendel gehört ohne Frage zu den ganz großen Violinisten dieses Jahrhunderts. In den 50er und 60er Jahren spielte sie gemeinsam mit dem Sinfonie-Orchester des Süddeutschen Rundfunks unter Leitung des damaligen Chef- dirigenten Hans Müller-Kray eine Vielzahl von Violinkonzerten; die Mitschnitte gehören heute wohl zu den kostbarsten Schätzen des SWR-Archives. 
Hänssler Classic hat auf der vor- liegenden CD die Konzerte für Violine und Orchester in D-Dur von Peter Tschaikowski und in a-Moll von Antonin Dvorak zusammengefasst. Das passt. Tschaikowskis Violinkonzert, das als Lieblingsstück aller Geiger gilt, spielt auch Ida Haendel seit ihrer Jugend. Nicht ganz so prominent, aber ebenfalls wohlbekannt ist Dvoraks Werk mit seinem herrlichen Schlussrondo, das tschechische Volksmusik zitiert. 
Beide Konzerte geben der Solistin Gelegenheit, ihre Stärken zu zeigen. Starallüren gehören offensichtlich nicht dazu. Haendel spielt mit beeindruckender Direktheit, Klarheit und Schlichtheit - und mit ver- blüffender emotionaler Kraft. Es ist nicht wirklich wichtig, wenn hier und da eine Phrase misslingt, oder einige Töne unsauber sind, denn hier offenbart sich der Geist, und nicht das Handwerk. Haendel wählt eher langsame Tempi, und sie lässt ihre Geige erzählen - hinreißend!

Montag, 3. Mai 2010

Bryn Terfel: Bad Boys (Deutsche Grammophon)

Bitte ein finsteres Gesicht fürs Foto! und wo der Mann ohnehin schon so arg  dreinschaut, kann er doch gleich auch noch die Hits der bösen Buben singen, mag sich das Management der Deutschen Grammophon gedacht haben. 
Auf dieser CD interpretiert nun also Bryn Terfel die schönsten Arien diverser Bösewichter der Operngeschichte, von Mozart bis Schönberg. Da findet sich Boitos Mefistofele neben Puccinis ruch- losem Scarpia, der selbst in der Kirche nur an seine Intrigen denken kann, Verdis Schurke Jago neben Carl Maria von Webers verrufenem Jägerburschen Kaspar, Gershwins Sportin' Life neben dem Spion Barnaba aus Ponchiellis La gioconda, Beethovens Pizarro neben Rossinis Don Basilio und Gounods Méphistophélès neben dem Balladensänger aus Weills Dreigroschen- oper - um nur einige bekannte Namen zu nennen. 
Terfel hat an diesen musikalisch wie charakterlich sehr unterschied- lichen Partien hörbar Vergnügen. Der Bassbariton krönt die CD zum Schluss mit dem Auftritt des Komturs im Hause des Don Giovanni, was bekanntlich dessen finale Szene ist - und Diener Leporello Todesängste ausstehen lässt. Alle drei Figuren werden von Bryn Terfel gesungen; moderne Technik macht es möglich, und der Sänger hat seinen Spaß dabei. Eine ausgesprochen komödiantische Aufnah- me, die zeigt, dass auch die Schurken nur Opernfiguren sind. Und das Schwedische Radio-Sinfonieorchester unter Paul Daniel unterstützt diese Lesart nach Kräften.

Sonntag, 2. Mai 2010

Paganini: Konzerte für Violine und Orchester I- IV; Turban (Telos Music Records)

In Wien wurde er gefeiert, in Berlin mit Argwohn beäugt: Niccolò Pa- ganini, jener Virtuose, der einst Schubert zu der Bemerkung hin- riss, er habe einen Engel singen hören, galt den Deutschen als Teufelsgeiger. Und während einige Musiker wie Schumann oder Liszt in einen wahren Paganini-Taumel gerieten, sahen andere Kollegen seine Konzerte durchaus kritisch: "Seine linke Hand, die immer reine Intonation und seine G-Saite sind bewunderungswürdig", berichtet beispielsweise Louis Spohr 1830 in einem Brief. "In seinen Komposi- tionen und seinem Vortrag ist aber eine so sonderbare Mischung von höchst Genialem und Kindischem und Geschmacklosem, weshalb man sich abwechselnd angezogen und abgestoßen fühlt." Diese Meinung erscheint nicht ganz abwegig; das wird der geneigte Hörer bestätigen, wenn er die vorliegende Einspielung von Paganinis Violinkonzerten I bis IV durch Ingolf Turban und das WDR Rundfunk- orchester Köln unter Lior Shambadal kennengelernt hat. 
Der Solist spielt virtuos und zudem mit Verstand. So entdeckt er manches Detail, das andere gern übersehen. Das Konzert Nr. 1 op. 6, üblicherweise vorgetragen in D-Dur, beispielsweise belässt Turban in jener Tonart, in der die Orchesterstimmen ursprünglich notiert waren - in Es-Dur. Es ist bekannt, dass Paganini gern zu einem Trick griff, der seinem Instrument zu einem besonders strahlenden und erhabenen Klang verhalf. Das Phänomen beruht auf der sogenannten scordatura - und in diesem Falle wird die Violine um einen halben Ton höher gestimmt. Der Violinist aber benutzt Noten, in denen seine Partie einen halben Ton tiefer notiert ist, hier also in D-Dur. So löst Turban ein musikalisches Rätsel - und der Hörer wird sich über den enormen Zugewinn an klanglicher Brillanz freuen.
Ingolf Turban wagt sich zudem an eigene Kadenzen, die - bei aller Freude an artistischen Effekten - in erster Linie den dramatischen Gestus des musikalischen Materials nachvollziehen und sich so nicht in Zirkusmätzchen erschöpfen. Natürlich "geht" eine Phrase auch immer noch schneller, noch rasanter, mit noch mehr Doppelgriffen, Flageolett, Pizzicato und ähnlichem; allerdings geht ein olympischer Wettstreit um Komplexität und Geschwindigkeit am Wesen der Musik vorbei. Virtuosität ist eine Voraussetzung, aber nicht der Endzweck des Musizierens.
Paganini wusste offenbar beide Seiten zu verbinden. Enorme Finger- fertigkeit, clevere Ideen für immer neue Effekte, um ein nach Virtuo- sen süchtiges Publikum zu verblüffen - und ab und an, besonders in den langsamen Sätzen, ahnt man auch jene Tiefe der Empfindung, die Schubert seinerzeit so beeindruckt hat. Doch bevor man allzusehr ins Schwärmen gerät, setzt wieder das Orchester ein - oftmals leider unsensibel, brachial und viel zu laut. Natürlich hat Paganini den Rahmen um die funkelnden Soli mitunter ziemlich grob geschmiedet. Aber muss man den Kontrast gleich derart übertreiben?