Dienstag, 24. April 2012

Johann Ernst Bach: Passionsoratorium (Capriccio)

Darüber, was die Musikwirtschaft dem Publikum typischerweise serviert, kann man immer wieder staunen. Klingende Passionsbe- richte gehörten schon zu Schütz' Zeiten zum festen Repertoire der vorösterlichen Kirchenmusik. Jeder Komponist, der auf sich hielt, hat dazu Werke beigetragen. Über die Jahrhunderte sind so ganze Bibliotheken an Passionen entstanden. Allein Georg Philipp Telemann schuf gut 30 derartige Kompositionen. Selbst Ludwig van Beethoven schrieb Christus am Ölberg. Doch dann wurden die Passionen von Johann Sebastian Bach wiederentdeckt - und damit verschwanden alle anderen Werke dieser Gattung, sozusagen sang- und klanglos, aus den Kirchen. 
Selbst wenn in den vergangenen Jahren einige dieser verstummten Passionsmusiken auf CD eingespielt worden sind, so prägen Bachs Werke erstaunlicherweise nach wie vor das vorösterliche Konzert- programm. Das ist gleich aus mehreren Gründen schade. Denn zum einen ist längst nicht jede Kantorei in der Lage, eine Bach-Passion angemessen aufzuführen. Zum anderen fehlt dem Musikleben dadurch jene Tiefe, die das Verständnis der Werke eigentlich erst ermöglicht. 
Und dem Publikum entgehen Entdeckungen, wie sie der CD-Markt für Neugierige längst bereithält. Dazu gehört ohne Zweifel dieses Passionsoratorium von Johann Ernst Bach (1722 bis 1777), einem Neffen, Patensohn und Schüler des legendären Thomaskantors. Er wirkte als Organist in Eisenach, und wurde 1756 zum Hofkapell- meister von Herzog Ernst August Constantin ernannt. Die Weimar-Eisenachische Hofkapelle wurde allerdings schon zwei Jahre später nach dem Tod des Herzogs wieder aufgelöst. Die Lebensgeschichte dieses Komponisten, der ganz offensichtlich größten Wert auf die Kirchenmusik gelegt hat, bleibt uns weitgehend unbekannt. Sein Werk aber zeigt, dass er sein Handwerk exzellent beherrschte, und eine Fuge ebenso souverän einzusetzen wusste wie verwegene harmo- nische Wendungen und Melodien, die man nicht wieder aus dem Ohr bekommt. 
Hermann Max hat mit seiner Rheinischen Kantorei und dem Kleinen Konzert sowie einigen sehr ordentlich singenden Solisten 1989 für Capriccio nicht nur das Passionsoratorium, sondern auch Das Ver- trauen der Christen auf Gott, eine Ode auf den 77. Psalm für Tenor, Chor und Orchester, sowie Meine Seele erhebt den Herrn, eine Motette für Soli, vierstimmigen Chor, Streicher und Basso continuo, eingespielt. Die Noten wurden eigens für diese Aufnahme nach den Originalquellen erstellt. Für die nimmermüde Suche nach vergesse- nen Schätzen, die in Archiven und Bibliotheken schlummern, gebührt Hermann Max höchster Dank. Ohne das Engagement solcher Pioniere der "Alten" Musik wäre unser Wissen und unser Repertoire noch schmaler. 

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