Mittwoch, 29. April 2015

Ratis: Dialoghi con l'Angelo (Accent)

Die Canzonette spirituale e morali si cantano nell'Oratorio di Chiavenna erschienen 1657 in Mailand bei Francesco Rolla. Wer sie geschaffen hat, ist nicht bekannt; es wird aller- dings vermutet, dass sie von dem Priester Francesco Ratis geschrieben wurden. Er stammte aus Como, und kam 1638 als Organist der Stiftskir- che San Lorenzo nach Chiavenna. 1667 kehrte Ratis in seine Heimat- stadt zurück, wo er 1676 starb. Er begründete in Como eine Kongrega- tion der Oratorianer. Diese Gemeinschaft setzte bei der Verkündigung sehr stark auch auf die Kraft der Musik. Ihr Begründer, Filippo Romoli Nehri, war Beichtvater Palestrinas. Er schätzte die Volksweisen, ließ aber dennoch gern kunstvoll musizieren, was zur Entstehung einer neuen Gattung führte, des Oratoriums. 
Die Stücke auf dieser CD entstammen ebenfalls der Musizierpraxis dieser Gemeinschaft. Die Canzonette spirituale e morali enthalten polyphone, monodische und in Dialogform komponierte Werke. Die hübschen kleinen Kantaten und Canzonetten, die oftmals durch geschickte Kontrafaktur populärer Lieder entstanden sind, dürften seinerzeit für volle Kirchen gesorgt haben. Wenn sich die Seele, ein Engel und Satan angeregt unterhalten, dann hat das auch für den heutigen Hörer Unterhaltungswert. In einem anderen Dialog befragt das Gewissen die Seele, warum sie denn traurig sei. 
Besonders gelungen ist aber der Dialogo fra l'Angelo et il Musico. In die- sem Stück wird berichtet, dass Sänger, Instrumentalisten und Komponisten besonders gefährdet sind, der ewigen Verdammnis anheimzufallen. Denn, so der Engel, Hochmut und Eitelkeit sind ihre schlimmsten Sünden. Es ist köstlich, wie der Komponist dieses Werkes den vor Angst schlotternden Musicus gestaltet, dem der Engel erklärt, wie er doch noch in den Himmel kommen kann. Die Sänger Cornelia Samuelis und Chiyuki Okamura, Sopran, Franz Vitzthum, Countertenor, Christian Dietz, Tenor und Yorck Felix Speer, Bass sowie die Musiker des Ensembles Nuovo Aspetto unter Michael Dücker gestalten ihre Partien mit Temperament, sehr viel Spiel- freude – und mit ein wenig Augenzwinkern. 

Carl Philipp Emanuel Bach: Magnificat (Brilliant Classics)

Zwei ältere Aufnahmen von Werken Carl Philipp Emanuel Bachs (1714
bis 1788) wurden bei Brilliant Classics wieder veröffentlicht. 
Das Magnificat in D-Dur Wq 215 erklingt als Mitschnitt von einem Konzert anlässlich des 200. Todestages des Komponisten mit den Solisten Venceslava Hrubá-Freiberger, Barbara Bornemann, Peter Schreier und Olaf Bär sowie dem Rundfunk- chor Berlin. Aufgezeichnet wurde es im Dezember 1988 im Schauspiel- haus Berlin. 
Carl Philipp Emanuel Bach hat das Magnificat 1749 komponiert; es wird spekuliert, ob er es geschrieben hat, um sich den Leipziger Stadträten als Nachfolger seines Vaters in der Position des Thomaskantors zu empfehlen, oder möglicherweise auch für eine Bewerbung als Hofkapellmeister bei Prinzessin Anna Amalia von Preußen, der jüngsten Schwester Friedrichs des Großen. Sie war musikalisch sehr versiert, gilt aber als konservativ. Uraufgeführt jedenfalls wurde das Werk noch vor dem Ableben Johann Sebastian Bachs in der Leipziger Thomaskiche. 
Komplettiert wird die CD durch eine sehr schöne Studioeinspielung der Sinfonien in G-Dur Wq 173 und 180, aufgenommen 1989. Das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach unter seinem Gründer und Leiter Hartmut Haenchen macht hier seinem Namenspatron alle Ehre.

Dienstag, 28. April 2015

Moritz Landgraf von Hessen: Sacred & Secular Works (cpo)

Landgraf Moritz von Hessen-Kassel (1572 bis 1632), genannt „der Gelehrte“, regierte in Kassel von 1592 bis 1627. Schon sein Vater Wilhelm IV. der Weise interessierte sich für die Wissenschaften. Er ließ nicht nur die erste Sternwarte Mitteleuropas in seinem Schloss errichten, er ließ auch seinen Kindern die bestmögliche Er- ziehung und Ausbildung zukommen. So studierte Moritz an der Marburger Universität. Als Landesherr war er eine beeindruckende Persönlichkeit: „Moritz beherrscht Griechisch und Latein vollkommen, auch Spanisch, Italienisch und Französisch“, berichtete der Gesandte der Medici. „Vermehrt wird sein Ruhm durch vollständige Kenntnis der Philosophie und darüber hinaus aller Wissenschaften, worin er sich ganz erstaunlich auszeichnet.“ In der Politik freilich war der Landgraf nicht ganz so erfolgreich. Letztendlich zwangen die Landstände ihn, zu Gunsten seines Sohnes abzudanken. 
Die besondere Liebe des Herrschers galt der Musik. Er hat sowohl die Werke der flämischen als auch der italienischen Komponisten aufmerksam studiert. Moritz entdeckte und förderte den jungen Heinrich Schütz, und investierte sehr viel Geld in seine Hofkapelle. Etliche Komponisten widmeten dem schöngeistigen Landgrafen Werke, so neben Schütz auch Michael Praetorius, Melchior Franck oder Hans Leo Hassler. Moritz komponierte aber auch selber – und seine Werke können sich neben jenen der „Profis“ absolut hören lassen, wie die vorliegende CD beweist. In der vierten Folge der Serie „Renaissance im Norden“ stellt das Ensemble Weser-Renaissance unter Leitung von Manfred Cordes einige seiner geistlichen und weltlichen Werke vor. 

Reger: Organ Suites Nos. 1 and 2 (Naxos)

Geht es um Orgelmusik, gilt Max Reger ( 1873 bis 1916) als der größte deutsche Komponist seit Bach. Obwohl er selbst katholisch war, schöpfte Reger seine musikalische Inspiration oftmals aus der luthe- rischen Tradition. Insbesondere die Choräle schätzte er sehr. Viele seiner Werke schrieb er für seinen Jugend- freund Max Straube, der ebenfalls bei Hugo Riemann studiert hatte, und seit 1902 als Organist an der Leipziger Thomaskirche wirkte. 
Auf dieser CD sind Regers Orgelsuiten Nr. 1 e-Moll op. 16 und Nr. 2 g-Moll op. 92 zu hören. Kirsten Sturm spielt sie an der Orgel des Rottenburger Doms St. Martin. Sie wurde 1979 von Hubert Sandtner, Dillingen, erbaut und verfügt über 61 Register auf vier Manualen und Pedal, plus Glockenspiel. 
Die e-Moll-Suite, entstanden 1894/95, war Regers erstes bedeutendes Orgelwerk. Er widmete sie „Den Manen Joh. Seb. Bach's“, und schickte ein Exemplar des 1896 gedruckten Musikstückes an Brahms, der sich positiv äußerte. Das viersätzige Werk beeindruckt durch Transparenz und Kom- plexität. Wer Regers Orgelmusik spielen will, der sollte ein hervorragender Organist sein – auch wenn seine Musik bei Sturm zunächst eigentlich eher unkompliziert klingt. Doch in der zweiten Suite, komponiert 1906 – zu diesem Zeitpunkt unterrichtete Reger als Nachfolger Rheinbergers an der Münchner Akademie der Tonkunst – zeigt der Komponist, was sich den althergebrachten Formen wie Präludium, Toccata und Fuge auch im 20. Jahrhundert noch abgewinnen lässt. In diesem Werk demonstriert Reger seine ganze Kunstfertigkeit – und die Organistin musiziert souverän, stellt die einzelnen Motive heraus, präsentiert dem Hörer das komplexe Stimmengeflecht der Fugen, das rasante Figurenwerk der Toccata und die hohe Kunst des Regerschen Kontrapunkts. Sehr hörenswert.

Montag, 27. April 2015

Medieval Chant and Tallis Lamentations (Tenebrae)

Das Tenebrae Consort unter Nigel Short kombiniert auf seiner Debüt-CD gregorianische Gesänge, die in der Passionzeit gesungen werden, mit den Lamentations of Jeremiah in der Vertonung von Thomas Tallis sowie einem Responsorium von John Sheppard. 
„The timeless beauty of the simple melodic and rhythmic inflections of chant captivated me even as a young chorister“, berichtet Short im Beiheft. „Its calming, reflective and almost hypnotic effect is particularly powerful heard within the context of our highly-charged lives, yet it has been sung by monks for around a thousand years in churches, cathedrals and abbeys around the world.“ 
Die ausgewählten Gesänge sind vor der Reformation in der Kathedrale von Salisbury erklungen, und zwar zur sogenannten Komplet, dem Nachtgebet der Mönche. Die vier bzw. fünf Sänger aus dem zweifelsohne exzellenten Tenebrae-Chor psalmodieren, wie es Benediktiner nicht eindrücklicher könnten. Auch Tallis' Lamentations singen sie mit Leidenschaft und Präzision. Eine gelungene, ausgesprochen suggestive, kraftvolle Auf- nahme.

Thomas Hecker Oboe (Genuin)

Die erste CD ist ein ganz besonderer Meilenstein in der künstlerischen Biographie eines Musikers. „Wie wahrscheinlich viele Debütanten bin ich die CD sehr ambitioniert und idealistisch angegangen“, meint Thomas Hecker. Der Oboist, Ge- winner des Deutschen Musikwett- bewerbs 2008 und mittlerweile Solo-Oboist des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, hat durch seine souveräne Programmgestaltung dafür gesorgt, dass diese CD auch für den Hörer zu einem Ereignis wird. Hecker kombiniert Barock und Moderne, Ernsthaftes und Unterhaltsames – von Vivaldi bis Berio, von Couperin bis Yun und von Telemann bis Jackman. Der junge Oboist musiziert mit schönem, wandlungsfähigen Ton und feinem Gespür für Nuancen. Unterstützt wird Hecker dabei von Aleke Alpermann und Mischa Meyer, Violoncello, Michael Metzler, Tambourin, Michael von Schönermann, Fagott und Raphael Alpermann, Cembalo. Das Ergebnis: Kammermusik vom Allerfeinsten! 

Mittwoch, 22. April 2015

Bach: Markus-Passion (Rondeau)

Dass Johann Sebastian Bach eine Markus-Passion geschrieben hat, ist schon seit längerem bekannt. Den Text dazu hat Christian Friedrich Henrici, besser bekannt unter seinem Pseudonym Picander, Bachs wichtig- ster Textdichter, neben anderen in seinen Ernst-, Schertzhafften und Satyrischen Gedichten veröffentlicht. Doch die Musik dazu ist leider verloren. Aus Picanders Druck ist zudem das Datum der Uraufführung zu erfahren – es war Karfreitag, der 23. März 1731. Bekannt ist zudem, dass eine weitere Aufführung 1735 in Delitzsch bei Leipzig stattgefunden hat. 
Im Jahre 2009 wurde in der Russischen Nationalbibliothek in St. Peters- burg ein weiterer, bislang unbekannter Textdruck der Markus-Passion entdeckt. Er enthält das Libretto einer Spätfassung aus dem Jahr 1744. Daran wird erkennbar, dass Bach auch diese Passion offenbar mehrfach überarbeitet hat. Denn diese Version enthält unter anderem den Text zweier neuer Arien, sowie eine Vielzahl von kleineren Änderungen. 
1873 erkannte Wilhelm Rust bei der Arbeit an der Bach-Gesamtausgabe, dass der Komponist für fünf Sätze der Markus-Passion BWV 247 Teile der Trauer-Ode Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl BWV 198 umgearbeitet hat. Einige Chorsätze aus der Trauer-Ode hatte er zuvor bereits in die Trauerkantate BWV 244a für Fürst Leopold von Anhalt-Köthen inte- griert. Das sogenannte Parodieverfahren, bei dem vorhandene Musik mit einem neuen Text versehen und musikalisch angepasst in einem neuen Werk wiederverwendet wird, war zu Bachs Zeiten üblich. Bach wäre vermutlich sehr erstaunt gewesen, zu erfahren, dass in späteren Jahrhun- derten, die das Originalgenie als Maß aller Dinge verehrten, diese Stücke als zweitrangig und minderwertig angesehen wurden. 
Wenn aber Bach selbst seine Werke solcherart recycliert hat – warum dann nicht den Versuch wagen, die verschollenen Klänge wiederzubeleben? Und so haben Musikwissenschaftler in den überlieferten Stücken des Thomas- kantors akribisch nach passenden Teilen gesucht, um sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Für die Spätfassung der Markus-Passion hat der Cembalist Alexander Grychtolik, ein erfahrener Spezialist für historische Aufführungspraxis, eine Rekonstruktion gewagt. Sie wurde nun durch die Knabenkantorei Basel und das Capriccio Barockorchester unter Markus Teutschbein aufgeführt; als Solisten wirkten mit Gudrun Sidonie Otto, Sopran, Terry Wey, Altus, Daniel Johannsen, Tenor – ein großartiger Evangelist! –, Hanno Müller-Brachmann, Bass – Jesus und Stephan MacLeod, Bass – Arien. Die Ersteinspielung ist bei Rondeau erschienen. 
Sie ist durchaus hörenswert; allerdings hat Bach selbst seine Musik meist recht radikal verändert, wenn er sie für ein neues Werk genutzt hat. Insofern erscheint es diskussionswürdig, ob man eine derartige Rekon- struktion überhaupt wagen kann. Denn bleibt man nahe am erhaltenen Notentext, wird man Bach möglicherweise nicht wirklich gerecht. Je mehr man sich aber von der Überlieferung entfernt, desto spekulativer wird es – und jeder Versuch, aus heutiger Perspektive Bach zu imitieren, muss zwangsläufig scheitern. Gott würfelt nicht.

Dienstag, 21. April 2015

Ries: Der Sieg des Glaubens (cpo)

„Mein Oratorium ist so aufge- nommen worden, daß das ganze Haus gezittert hat – es ist das größte und effektvollste Werk, was ich geschrieben habe, aber die Aufnahme hätte ich mir so nicht denken können, alles war rein toll, und wahrer Jubel herrschte überall“, berichtete Ferdinand Ries (1784 bis 1838) nach der Uraufführung in einem Brief an seinen Bruder Joseph. Dabei war der Komponist zunächst nicht sehr begeistert, als er den Auftrag erhielt, ein Oratorium für das Niederrheinische Musikfest in Aachen 1829 zu schreiben. Das Libretto lieferte der im Rheinland geschätzte Johann Baptist Rosseau, der wie Ries und sein Jugendfreund Beethoven aus Bonn stammte. 
Der Sieg des Glaubens hat, ähnlich wie beispielsweise Haydns Jahres- zeiten, keinerlei Bezug zur Bibel. Rosseau verzichtet zudem auf eine durchgehende Handlung; sein Text erscheint als philosophischer Diskurs über die Macht des Glaubens und die Kraft der Gnade. Den Chören der Gläubigen wird dabei ein Chor der Ungläubigen entgegengesetzt, der sich auf Kampf und Eisen beruft. Er hat eher wenig zu sagen – doch um ihn zum Einlenken zu bringen, bedarf es eines Wunders. Und so schweben denn der Engel des Glaubens und der Seraph der Liebe, umgeben von Harfen- klängen, zur Erde hernieder. 
Ries entrinnt der Kitschgefahr durch seine kraftvolle Musik und eine Vielzahl von gekonnt formierten Ensembles. Man hört es schon, dass der Komponist ein Schüler Beethovens war.  Die Rheinische Kantorei, das Solistenqartett Christiane Libor, Wiebke Lehmkuhl, Markus Schäfer und Markus Flaig sowie Das Kleine Konzert haben nun unter Hermann Max Der Sieg des Glaubens erstmalig seit 1829 wieder aufgeführt. Es ist kaum zu glauben, doch dieses Oratorium scheint seit der Aachener Premiere tatsächlich nicht mehr erklungen zu sein. 

Montag, 20. April 2015

Guillemain: Sonates en Quatuors (Raumklang)

Louis-Gabriel Guillemain (1705 bis 1770) war, so berichtet ein Zeitge- nosse, der deutsche Musikwissen- schaftler Friedrich Wilhelm Marpurg, „ein Mann für den keine Schwürig- keit zu groß ist, die er nicht beim ersten Anblick vom Blatte weg, in der möglichsten Vollkommenheit treffen sollte. Seine Compositionen sind ziemlich bizarre, und studirt er täglich darauf, sie noch immer bizarrer zu machen“
Der Geiger war das Ziehkind eines Edelmannes; er war Schüler von Jean-Marie Leclair und Giovanni Battista Somis. 1729 wurde Guillemain Orchestermitglied an der Oper in Lyon, 1734 Konzertmeister in Dijon. 1737 avancierte er zum musicien ordinaire de la Chapelle et le Chambre du Roy in Versailles. Unter den Musikern des Königs stand er auf der Gehaltsliste gleich hinter dem Starviolinisten Jean-Pierre Guignon auf Rang zwei. Dennoch war er mit seinem Dasein nicht wirklich zufrieden; die Bettelbriefe, die er seinen Gönnern schrieb, erinnern fatal an die Mozarts. Schließlich wurde er mit 14 Messerstichen im Körper aufgefunden. Sein Ableben wurde zu einem Selbstmord erklärt, und die Leiche schnell verscharrt. 
Das erscheint ziemlich merkwürdig, zumal der Musiker als Geiger wie als Komponist ziemlich geschätzt war. Das Rätsel um das Lebensende des Musikers werden wir, aus heutiger Perspektive, wohl nicht mehr lösen können. Seine Musik allerdings erscheint weit weniger rätselhaft als sein Lebensweg. Das Ensemble Barockin' hat vier seiner Sonates en quatours eingespielt, zwei davon in Weltersteinspielung. Es sind graziöse, sehr elegante Stücke, durch den Komponisten bestimmt für Traversflöte, Violine, Viola da gamba und Basso continuo. Allzu gelehrte Formen vermied Guillemain ebenso wie krasse Kontraste oder drastischen Affekt-Ausdruck. Dennoch ist seine Musik nicht oberflächlich. Und für den Geiger hält Guillemain allerhand technische Überraschungen bereit. Seine Stärke ist die Melodie, darin brilliert er – und die Musiker des Ensembles Barockin' mit ihm. Ihre Interpretation vereint Musizierlust und Anmut. Bravi!

Stellwagen-Orgel zu St. Marien, Stralsund - Die Norddeutsche Orgelkunst Vol. 4 (MDG)

Die vierte CD der Reihe „Norddeut- sche Orgelkunst“ beschäftigt sich mit Orgelmusik aus Lüneburg. Nach Lübeck, Danzig und Hamburg rückt somit eine Stadt in den Blick, die nicht gerade als musikalisches Zentrum gilt. Was also, einmal abgesehen von der Nähe zu Hamburg, bewog seinerzeit den 14jährigen Johann Sebastian Bach, aus dem thüringischen Ohrdruf in die Fremde zu ziehen? Einen Freitisch hätte der Waisenknabe mit der schönen Sopranstimme ganz sicher auch an einer Lateinschule im heimatlichen Thüringen bekommen können. 
Was also fand der junge Bach in Lüneburg vor? Die Lateinschule am ehemaligen Michaeliskloster, die Jugendliche aus dem Bürgertum auf das Studium vorbereitete, befand sich direkt neben der Ritterakademie, in der der Nachwuchs des Adels lernte. Sie verfügte über eine der größten Chorbibliotheken evangelischer Kantoreien. Direkt am Marktplatz hatten die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg erst vor kurzem ein neues Residenzschloss errichtet. Dort wurde garantiert auch musiziert – ebenso wie in den vier Großkirchen der Stadt. 
Martin Rost, Kantor und Organist an der Marienkirche zu Stralsund, hat für die vorliegende Einspielung Orgelmusik aus Lüneburg herausgesucht. So erklingen die vier überlieferten Orgelwerke von Johann Steffens (1559/60 bis 1616). Er wirkte als Kantor an St. Johannis, und gilt als einer der Ahnväter der norddeutschen Orgelschule. Peter Morhard (um 1635 bis 1685) war Organist an St. Michaelis. Auf der CD sind drei Stücke von ihm zu hören. An St. Lamberti musizierte Christian Flor (1626 bis 1697), mög- licherweise der berühmteste Lüneburger Organist; seine drei erhaltenen Orgelwerke spielt Rost ebenfalls. 
Georg Böhm (1661 bis 1733) verknüpfte in seinen Werken mitteldeutsche und norddeutsche Musiziertraditionen. Der Musiker, der aus Gotha stammt und in Jena studiert hat, war Organist an St. Johannis. Es wird vermutet, dass er zu den Lehrern Bachs gehörte. Sein Schaffen ist, anders als das seiner Kollegen, relativ gut belegt. Einer seiner Amtsnachfolger, Johann Christoph Schmügel (1727 bis 1798), Sohn eines Organisten aus dem mecklenburgischen Pritzier, ein Schüler Telemanns, ist ebenfalls mit Musikbeispielen vertreten. Er folgt in den hier gespielten zwei Werken wohl eher süddeutschen Vorbildern. 
Und natürlich hat Rost auch frühe Werke Bachs für diese Einspielung herausgesucht. Der Organist musiziert an der Stellwagen-Orgel der Marienkirche in Stralsund – ein großartiges Instrument, errichtet von dem Lübecker Orgelmacher Friedrich Stellwagen (1603 bis 1660) als Krönung seines Lebenswerkes und zu Beginn dieses Jahrtausends sorgsam wieder restauriert. So ist es möglich, dass diese Orgel-CD mit dem Signal des Calcantenglöckchens beginnt, gefolgt vom geräuschvollen Aufseufzen der Balganlage. Das ist nicht nur ein Showeffekt. Das Beiheft bestätigt, dass den Orgelwind für die Aufnahmen tatsächlich „statt des Orgelmotors in authentischer Weise die durch Calcanten betätigten 12 Keilbälge“ geliefert haben. Das Glöckchen sendet unmissverständlich das Signal: Hier wird mit Sorgfalt, Leidenschaft und Sachverstand musiziert. Rost spielen zu hören, ist immer wieder ein Erlebnis. 

Sonntag, 19. April 2015

Bach: Messe in h-Moll (Berlin Classics)

Im Juli 2014 erklang Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe in der wiederaufgebauten Dresdner Frauenkirche. Ein Live-Mitschnitt dieses Konzertes mit dem Kammerchor der Frauenkirche und dem Ensemble Frauenkirche unter Kantor Matthias Grünert ist nun bei Berlin Classics erschienen – pünktlich zum 330. Geburtstag des Komponisten. 
Als Solisten singen Miriam Meyer, Sopran, Britta Schwarz, Alt, Markus Brutscher, Tenor, und Klaus Mertens, Bass. Grünert orientiert sich bei seiner Interpretation der „hohen“ Messe weniger an den Gesangslinien als vielmehr an den Orchesterstimmen. Das führt mitunter zu etwas eigenwilligen Tempi und Akzenten, die seitens der Sänger kein Echo finden. Es hat aber seine Reize insofern, als die Musiker des Ensembles Frauenkirche ihre Stärken demonstrieren können. 
Und die haben sie, ohne Frage – von Robert Langbein, der exzellent das Horn spielt, über die drei brillanten Trompeter Christian Höcherl, Nikolaus von Tippelkirch und Frank Hebenstreit bis hinzu den präzise agierenden Streichern, den superben Holzbläsern, Thomas Käppler an den Pauken und Cornelia Osterwald an Truhenorgel und Cembalo. Nur schade, dass die Solo-Instrumente in den Arien mitunter lauter sind als die Solisten. 
Der Kammerchor schlägt sich wacker. Und der pathetisch-erhabene Beginn mit dem Kyrie lässt wirklich aufhorchen. Die Soprane haben Höhe, die Stimmen sind geübt und gesungen wird intonationssicher. Doch so manchen tänzerisch-beschwingten Orchesterpart vermag der Chor nicht zu spiegeln. Mitunter ist Grünert so flink unterwegs, dass der Chor seine Koloraturen wie eine Turnübung absolvieren muss. Die Sänger schaffen das, irgendwie, aber der Ausdruck bleibt dabei auf der Strecke. Und für die großen Jubelchöre, im Glanze der Trompeten, fehlen dann einfach die Reserven. Verkaufen wird sich diese CD ganz sicher, aber von Bachs h-Moll-Messe gibt es bereits sehr viele Aufnahmen – und etliche davon finde ich, sorry, besser. 

Samstag, 18. April 2015

Ich hebe meine Augen auf - Telemann, Heinichen & Graupner in Leipzig (Carus)

Musikalisch ambitionierte Studenten hatten zu Beginn des 18. Jahrhun- derts in Leipzig einen attraktiven Studienort. Die Gottesdienste in den beiden Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai waren weit über die Landesgrenzen hinaus berühmt aufgrund der Kirchenmusik, die nicht nur von Stadtpfeifern, Kunstgeigern und Thomanern bestritten wurde. Auf der Empore fanden sich auch etliche talentierte Studiosi ein, zumal in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sogar ein Etat vorhanden war, sie fürs Musizieren zu entlohnen. 
Doch nicht nur in den Kirchen fanden Musikinteressierte ein reiches Betätigungsfeld. Auch im 1693 gegründeten Leipziger Opernhaus sowie in diversen Collegia musica, die im Kaffeehaus musizierten, saßen Studierende an den Pulten. So gingen die jungen Leute in Scharen an die Pleiße, um dort Jura zu studieren, wie es Brauch war – und sich nebenher auf den Gebiet der Musik zu erproben. Etliche von ihnen wurden anschließend Musiker; erinnert sei hier nur an Georg Philipp Telemann, Johann Georg Pisendel, Gottfried Heinrich Stölzel und die vormaligen Thomasschüler Christoph Graupner, Johann Friedrich Fasch und Johann David Heinichen. 
Was aber haben die Studierenden vorgetragen? Diese CD mit L’arpa festante unter Rien Voskuilen vermittelt einen Eindruck davon; herausgesucht wurden Werke von Telemann, Graupner und Heinichen, die mit einiger Sicherheit in den Jugendjahren der Komponisten entstanden sind. Die Musiker von L'arpa festante machen mit Schwung und Präzision die drei Kantaten und Telemanns Ouvertüre zu einem Hörvergnügen. Und auch das Solistenquartett ist mit Veronika Winter, Alex Potter, Hans Jörg Mammel und Markus Flaig erstklassig besetzt. 

Donnerstag, 16. April 2015

Byrd: Infelix ego (Phi)

Die dritte CD mit Chorrepertoire aus der Zeit der Renaissance, die Philippe Herreweghe bei seinem Label Phi vorgelegt hat, ist William Byrd (um 1540-1623) gewidmet. Der Komponist wirkte, ebenso wie Thomas Tallis, der möglicherweise sein Lehrer gewesen ist, als Organist an der Chapel Royal. Mit der anglikanischen Kirche konnte Byrd allerdings wenig anfangen; er selbst blieb zeitlebens Katholik und schrieb, neben Werken für den anglikanischen Gottesdienst, auch eine Vielzahl von Musikstücken entsprechend der katholischen Liturgie. Er veröffentlichte sie auch, was ziemlich kühn war, da Katholiken damals in England verfolgt und für die Missachtung des staatlich verordne- ten rechten Glaubens mitunter hart bestraft wurden. 
Mit dem Collegium Vocale Gent hat Herreweghe neben der fünfstimmigen Messe auch einige Motetten dieses bedeutenden Meisters der späten Tudor-Zeit eingespielt. Byrds Musik wurde zudem durch je ein Werk von Alfonso Ferrabosco und Philippe de Monte ergänzt. Auch diese beiden Musiker wirkten zeitweise in England bei Hofe; es gibt gute Gründe dafür, anzunehmen, dass Byrd beide kannte. 
Den Mittelpunkt dieser CD bildet Byrds berühmte Motette Infelix ego. Der Text ist eine Meditation über Psalm 51, verfasst von dem Dominikaner Girolamo Savonarola (1452 bis 1498) kurz vor seiner Hinrichtung. Der Prediger hatte seinerzeit die Medici aus Florenz vertrieben und dort ein grausiges, rigoros frommes Regime zu errichten versucht. Er ist damit gescheitert – und wurde als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Diesen Text dürfte Byrd wohl kaum zufällig gewählt haben; seine Verto- nung ist ein Meisterwerk, das man unbedingt kennen sollte. Und das Collegium Vocale Gent singt exzellent. Es ist faszinierend, wie sehr sich die Sängerinnen und Sänger sogar auf den typisch englischen Chorklang einstellen. Bravi! 

Mittwoch, 15. April 2015

O crux (Helbling)

A-cappella-Chormusik zur Fasten- und Osterzeit präsentiert auf dieser CD der Wiener Kammerchor unter Leitung von Michael Grohotolsky. Auch wenn die vorösterliche Fasten- zeit, ebenso wie die Adventszeit, als Tempus clausum eher eine Zeit der Stille und der Buße sein sollte, so gehörte Gesang doch stets zu den Mitteln der angestrebten Besinnung. 
Der Wiener Kammerchor präsentiert eine Auswahl gelungener Komposi- tionen für die Passionszeit, von Carlo Gesualdo di Venosa über Antonio Lotti und Fernando Sor bis hin zu Anton Bruckner, Max Reger und Michael Aschauer. Es sind prächtige Werke; allerdings hat der Chor seine Stärke sowohl stilistisch wie auch vom Chorklang her eher im Bereich der moderneren Musik. Er ist um uns'rer Missetat willen verwundet beispielsweise, eine Motette von Friedrich Wilhelm Kücken (1810 bis 1882), wird vom Wiener Kammerchor wundervoll gesungen. Erwähnt werden muss an dieser Stelle das Beiheft, das ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen Werken, sämtliche Texte sowie Informationen über die Mitwirkenden bereithält. Und falls jemand Lust bekommen haben sollte, Werke nachzusingen – die Noten sind, welch ein Zufall, alle bei Helbling verfügbar. 

Caldara: Morte e sepoltura di Christo (Glossa)

Antonio Caldara (1670 bis 1736) stammte aus Venedig. Er erhielt seine musikalische Ausbildung vermutlich bei Giovanni Legrenzi; über seine Jugendjahre ist ansonsten nicht viel bekannt. Von 1700 bis 1707 war er Kapellmeister bei Ferdinando Carlo Gonzaga, dem Herzog von Mantua, und von 1709 bis 1716 bei Francesco Maria Ruspoli in Rom. Dort war sein Amtsvorgänger übrigens Georg Friedrich Händel. 
1716 ging Caldara nach Wien, wo er unter Fux Vizekapellmeister am Hofe des Kaisers Karl VI. wurde. Er komponierte eine enorme Anzahl von Werken, die erst allmählich wieder erschlossen werden. Sein Schaffen reichte von der Oper bis zur Triosonate und vom Kanon bis zur Kantate. In seinen letzten 20 Lebensjahren, die er am Wiener Hof in Diensten stand, schrieb Caldara beispielsweise zahl- reiche Oratorien. Eines davon, das 1724 entstandene Morte e sepoltura di Christo, hat Fabio Biondi als Kapell- und Konzertmeister mit dem norwe- gischen Stavanger Symfoniorkester bei Glossa eingespielt. Es singen Maria Grazia Schiavo, Silvia Frigato, Martina Belli, Antonio Zorzi Giustiniani und Ugo Guagliardo. 
Das Oratorium beschreibt, wie Maria Magdalena, Maria, die Mutter Jacobs, Josef von Arimathäa, Nikodemus und ein römischer Centurio Jesu zu Grabe betten. Die Sängerpartien sind für herausragende Solisten ent- standen; den hohen Anforderungen wird dieses Ensemble leider nicht wirklich gerecht. Caldara hat allerdings auch die Instrumentalisten mit lohnenden Aufgaben bedacht; seine Begleitsätze sind abwechslungsreich, und bei immerhin vier der 15 Arien sind obbligati vorgesehen. 
Jedem Teil des Oratoriums wurde eine Motette Caldaras vorangestellt. Zum Zwischenspiel erklingt zudem Instrumentalmusik von Caldara, Johann Joseph Fux und Antonio Vivaldi, dessen Sonata Al Sancto Sepolchro hier sehr beeindruckt. Das Stavanger Symphony Orchestra musiziert farbenreich, klar strukturiert und sehr präzise. In jeder Hinsicht eine Entdeckung! 

Graun: Der Tod Jesu (Oehms Classics)

Carl Heinrich Grauns Passions- oratorium Der Tod Jesu, uraufgeführt 1755 im Berliner Dom, war ein Auftragswerk von Prinzessin Anna Amalia. Die kunstsinnige Schwester Friedrichs II. von Preußen nutzte dafür ein Libretto von Karl Wilhelm Ramler (1725 bis 1798); der Dichter war seinerzeit eine Berühmtheit und galt als der deutsche Horaz. Zu seinen geistlichen Kantatentexten, die allesamt von etlichen bedeutenden Komponisten vertont wurden, gehören auch noch Die Hirten bey der Krippe zu Bethlehem (1757) und Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu (1760). 
Das Passionsoratorium legt weniger Wert auf die Erzählung als vielmehr auf die Reflexion des Passionsgeschehens. Graun kombinierte dazu virtuose Arien mit emotional bewegenden Chören und feierlichen Chorälen. Nicht die strenge Form, sondern Leidenschaft und Ausdruck sollten die Zuhörer bewegen. Der Tod Jesu war ein großer Erfolg; das Oratorium wurde bis weit in das 19. Jahrhundert alljährlich in Berlin aufgeführt. Um 1850 begann das Publikum allerdings zu murren. Die Arien im Stile der opera seria und die empfindsamen Texte wurden als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Und so verschwand dieses Werk des Hofkapellmeisters Friedrichs des Großen schließlich aus dem Repertoire. 
Erst jüngst haben einige Ensembles Grauns Oratorium wiederentdeckt – so auch die Münchner Arcis-Vocalisten, gegründet im Jahre 2005 von dem renommierten Gesangspädagogen Professor Thomas Gropper, der das Ensemble noch immer leitet. Dieser Projektchor hat nun Der Tod Jesu gemeinsam mit dem Barockorchester L'arpa festante in einer Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk bei Oehms Classics veröffentlicht. Aus der gut besetzten Solistenriege sticht insbesondere Monika Mauch heraus, die selbst die schwierigsten Passagen mit Leichtigkeit und Eleganz singt. Zu hören sind zudem Georg Poplutz, Tenor, und Andreas Burkhart, Bass.

Dienstag, 14. April 2015

Bach: Vom Reiche Gottes (K&K)

„Im Bach-Jahr 1950 habe ich in Stuttgart und Reutlingen zum ersten Mal die Kantate ,Vom Reiche Gottes' aufgeführt, eine abendfüllende Kantaten-Zusammenstellung, die aus dem Wunsche heraus entstanden war, einzelne bedeutende Teile des Bachschen Kantatenwerks, die aus mancherlei Gründen so gut wie nie aufgeführt worden und deshalb unbekannt geblieben waren, vor dem völligen Vergessen zu bewahren und sie der Praxis wieder zuzuführen“, zitiert das Beiheft zu dieser CD Hans Grischkat (1903 bis 1977). Der Kirchenmusiker folgte damit einer Anregung Albert Schweitzers, der sich von der Kompilation dann auch sehr angetan zeigte. 
Grischkat hat Chöre, Rezitative, Ariosi, Arien und Choräle gesammelt, die er besonders gelungen fand, die aber normalerweise nur selten oder gar nicht zu hören sind. Und er hat aus diesem Bestand anschließend ein umfangreiches Werk zusammengefügt, das auf Veränderungen im Text und fast durchweg auch auf Eingriffe in Bachs Kompositionen verzichtet und trotzdem ein attraktives Ganzes ergibt. Der Thomaskantor selbst wäre bei einem solchen Pasticcio vermutlich weit weniger behutsam vorgegangen; er hat sogar komplette Kantaten mehrfach verwendet und dabei mitunter auch kräftig verändert.  
„Oft lag die Versuchung nahe, aus bekannten und oft aufgeführten Kanta- ten einzene Stücke zu verwenden“, schreibt Grischkat. „Doch habe ich darauf bewusst verzichtet, da es mir darum ging, unter allen Umständen das Bachsche Gesamtwerk im Prinzip unangetastet zu lassen.“ Dennoch wird ein inhaltlicher Zusammenhang erkennbar: Der erste Teil beschreibt den Menschen vor Gott, mit seinem Streben nach Heil und Gnade. Der zweite Teil ist dem Lobpreis gewidmet. 
Jürgen Budday hat dieses Werk im September 2013 mit dem Maulbronner Kammerchor und dem Barockorchester Il Capriccio im Konzert in der romanischen Maulbronner Klosterkirche aufgeführt; ein Mitschnitt dieses Ereignisses ist bei KuK erschienen. Den beiden Toningenieuren Josef-Stefan Kindler und Andreas Otto Grimminger ist es einmal mehr gelungen, trotz der schwierigen akustischen Verhältnisse mit einer beeindruckenden Aufzeichnung die besondere Atmosphäre der Konzerte in der Unesco-Welterbe-Stätte einzufangen. 
Als Solisten singen Heike Heilmann, Sopran, Franz Vitzthum, Altus, und Falko Hönisch, Bass. Sie alle überzeugen durch Ausdrucksstärke und Textverständlichkeit. Der Maulbronner Kammerchor meistert die Chor- partien mit sauberer Intonation, hoher Präzision und ausgewogenem Chorklang. Das Orchester Il Capriccio musiziert hochprofessionell und gut abgestimmt. Es ist zu spüren, dass die Musiker mit „Alter“ Musik bestens vertraut sind. Budday führt seine Scharen mit sicherer Hand durch das nicht unkomplizierte Opus. So hat Grischkat vor den Schluss-Choral Lobe den Herren eine mächtige Fuge gesetzt, die erst einmal bewältigt werden will. In dem sehr informativen Beiheft ist übrigens die jeweilige Besetzung nachzulesen. Dort findet sich auch der Text sowie die Quelle der einzelnen Kantatenteile. 

Montag, 6. April 2015

Bach: Matthäus-Passion Mendelssohn version 1841 (Challenge Classics)

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 bis 1847) erhielt schon als Schüler eine Abschrift von Bachs Partitur der Matthäuspassion. 70 Jahre nach dem Tod des großen Komponisten waren seine Werke nur noch Insidern bekannt. Zwar hatte die Berliner Sing-Akademie damals einige Chöre aus der Matthäuspassion im Repertoire. Aber ihr Direktor Carl Friedrich Zelter war der Meinung, das ganze Stück sei zu schwierig, um öffentlich aufgeführt zu werden. 
Der junge Mendelssohn war da anderer Auffassung. Und so begann er, ein Konzert vorzubereiten. Dazu bearbeitete er Bachs Werk – zum einen, um es den verfügbaren Instrumenten anzupassen, zum anderen, um den Fokus stärker auf das eigentliche Passionsgeschehen zu richten. So kürzte er kräftig, und änderte auch in der Partie des Evangelisten etliches, weil er befürchtete, dass seine Zeitgenossen Bachs Melodik eher befremdlich finden werden. Und weil er dem Sopran alle Arien gestrichen hatte, es aber in dem Solistenensemble gleich drei Sopranistinnen gab, übertrug er kurzerhand zwei Arien und ein Rezitativ vom Alt auf die hohe Stimmlage. In dieser Fassung wurde die Matthäuspassion 1829 erstmals wieder aufgeführt. Es war das erste Mal, dass dieses Werk nach Bachs Tod erklang – so erfolgreich, dass die Leute in anderen deutschen Städten diese Musik ebenfalls wieder hören wollten. 
1841, da war Mendelssohn bereits Gewandhaus-Kapellmeister in Leipzig, führte er die Matthäuspassion noch einmal in der Thomaskirche auf, Bachs langjähriger Wirkungsstätte. Die Version, die dort erklang, war weniger stark bearbeitet als die Berliner. In Leipzig wurde die Orgel als Begleitinstrument für die großen Chöre, alle Choräle und einige Arien genutzt; die Rezitative wurden von einem Kontrabass und zwei Celli begleitet. Die in Vergessenheit geratenen Oboeninstrumente wurden durch Klarinetten oder Bassetthörner ersetzt. 
In dieser Mendelssohn-Fassung aus dem Jahre 1841 hat nun Jan Willem de Vriend mit dem Chor Consensus Vocalis und dem Netherlands Symphony Orchestra die Matthäuspassion bei Challenge Classics vorgelegt. Das Solistenensemble ist mit Jörg Dürmüller, Evangelist und Tenor-Arien, Marcos Fink in der Partie des Jesus, Judith van Wanroij, Sopranm Helena Rasker, Alt und Maarten Koningsberger, Bass, gut besetzt. Generell ist diese Aufnahme, auch wenn sie wiederum für unsere Ohren mitunter etwas seltsam klingt, sehr ausgewogen und gelungen. Kurioserweise ist es die Welt-Ersteinspielung der Mendelssohn-Fassung – die ins Archiv entschwand, nachdem Bachs Musik beim Publikum wieder angekommen war. 

Sonntag, 5. April 2015

Buxheimer Orgelbuch (Oehms Classics)

Ein musikalisches Dokument ganz besonderer Art bringt Joseph Kele- men auf dieser CD zum Klingen. Das Buxheimer Orgelbuch, aufbewahrt bis 1883 im Karthäuserkloster von Buxheim an der Iller, ist um 1460 entstanden. Es enthält mit mehr als 250 Stücken die umfangreichste Sammlung von Tastenmusik aus der Zeit vor 1600. Spielen freilich kann man diese Musik nicht so ohne weiteres, denn sie wurde durch die unbekannten Schreiber in einem sehr eigenen Verfahren notiert: Der sogenannte Cantus, die Oberstimme, wurde in einem Notensystem ausgeschrieben; die anderen Stimmen stehen in Buchstaben darunter. Eine Beispielseite ist in dem sehr informativen Beiheft zu dieser CD abgebildet. 
Die Noten für diese Einspielung wurden von dem Freiburger Musikwissen- schaftler Dr. Michael Belotti, einem Spezialisten für historisches Orgel- spiel, eingerichtet. Er hat Kelemen, der ebenfalls ein Experte in diesem Bereich ist, auch bei der Aufnahme beraten. Vorgetragen werden die ausgewählten Werke möglichst originalgetreu, mit den alten Fingersätzen, also ohne Daumen und kleine Finger zu benutzen, und mit den damals üblichen Verzierungen und Kolorierungen. Auch beschränkt sich Kelemen weitgehend auf passende, zeitgenössische Register. 
Doch welche Orgeln sind in der Lage, solche Anforderungen zu erfüllen? In der St. Andreaskirche in Soest-Ostönnen befindet sich ein derart altes Instrument. Bei holztechnischen Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Bäume, aus denen das Gehäuse und Teile der Technik gefertigt worden sind, spätestens 1416 gefällt wurden. Selbst wenn man bedenkt, dass dieses Holz anschließend noch einige Jahre lagern und trocknen musste, ist die Orgel von Ostönne somit eine der ältesten spielbaren Orgeln der Welt. Wer sie errichtet hat, das ist nicht bekannt. 
Die Schwalbennestorgel der Innsbrucker Hofkirche wurde ab 1555 von Jörg Ebert erbaut und 1561 abgenommen. Diese größte, nahezu unversehrt erhaltene Renaissanceorgel Österreichs wurde in den 1970er Jahren durch die Orgelbauwerkstatt Jürgen Ahrend restauriert, wobei frühere Umbauten und Ergänzungen rückgängig gemacht wurden. Sie verfügt heute über 15 Register auf zwei Manualen und Pedal. 

Schütz: Matthäuspassion (Carus)

Rechtzeitig zum Osterfest erschien jüngst bei Carus die Matthäuspassion von Heinrich Schütz (1585 bis 1672). Es handelt sich dabei um ein spät, im Jahre 1666, entstandenes Werk. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Schütz bereits vom Dresdner Hof nach Weißenfels zurückgezogen, wo er aber, umsorgt von seiner ebenfalls betagten Schwester, noch immer Gewichtiges komponierte. Dazu gehört ohne Zweifel auch die Matthäuspassion – obzwar sie auf uns heute, im Vergleich zu Bachs Vertonung desselben Bibeltextes, zunächst ziemlich altmodisch und fremd wirkt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Schütz' Passionen durchweg A-cappella-Werke sind – in der Passionszeit hatten seinerzeit die Instrumente zu schweigen. 
Irritierend wirkt auf den heutigen Zuhörer auch die Tatsache, dass in diesem Musikstück auf weiten Strecken psalmodiert wird. Dieses Gestaltungsmittel, bei dem der Text rhythmisch frei fast durchgehend auf einem Ton rezitiert wird, ist uralt. Doch wenn man genauer hinschaut, dann steckt schon in der Wahl des Rezitationstones ein theologisches Programm: Schütz wählte g-dorisch, und damit eine Kirchentonart, die auf Heil und Auferstehung verweist. Und auch sonst erkennt man bald, wie subtil dieses Werk gestaltet wurde. Hier ist kein einziger Ton nur Ornament. In der Reduktion auf das Wesentliche, dem Verzicht auf Opulenz, entfaltet Schütz' Musik eine enorme Kraft und Ausstrahlung. 
Der Dresdner Kammerchor stellt sich nun dieser Herausforderung, und meistert sie ganz hervorragend. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Georg Poplutz in der Partie des Evangelisten und Felix Rumpf in der Rolle des Jesus. Sie deklamieren ihren Text ausdrucksstark und präzise; Schütz wäre darüber ganz sicher erfreut gewesen. Doch auch all die kleineren Soli sind exzellent besetzt, und der Chor singt grandios, mit blitzsauberer Intonation und beeindruckender Lebendigkeit. Der Text, ganz wichtig, ist stets zu verstehen. 
Der Dresdner Kammerchor unter Hans-Christoph Rademann agiert auch in den drei weiteren Stücken mit Präzision und jener erfreulichen Sing- kultur, die das Ensemble kennzeichnet. Unterstützt werden die Sänger durch Margret Baumgartl und Karina Müller, Violine, Sarah Perl, Violone und Ludger Rémy an der Truhenorgel. Hervorzuheben ist insbesondere die Litania SWV 458, ein beeindruckender, fast zehnminütiger Wechselge- sang. Er wird von der Sopranistin Ulrike Hofbauer und dem Dresdner Kammerchor so gelungen gestaltet, dass der Zuhörer wie gebannt lauscht. Heinrich Schütz hat die Deutsche Litanei Martin Luthers übrigens dreimal vertont. Den Menschen, die damals – nicht zuletzt durch den Dreißigjäh- rigen Krieg – Leid, Not und Seuchen nur zu gut kannten, muss dieser Text aus der Seele gesprochen haben. 

Freitag, 3. April 2015

Praetorius: Complete Organ Works (cpo)

Das Orgelwerk von Michael Praeto- rius (1571 bis 1621) stellt Friedhelm Flamme auf diesen beiden CD vor. Der Sohn eines Pfarrers wuchs in Torgau und Zerbst auf, und bereits 1585 begann er an der Viadrina in Frankfurt/Oder mit dem Studium der Theologie. Von 1587 bis 1591 war Praetorius dort Organist an der St. Marienkirche. 1594 wurde er Kammerorganist des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg. Dieser residierte nicht nur in Wolfenbüttel, sondern auch auf Schloss Gröningen bei Halber- stadt, und ließ ab 1592 durch David Beck eine große Orgel in seiner Schlosskapelle errichten. Eingeweiht wurde sie 1596 durch einen „Organi- sten-Convent“, zu dem, teilweise aus großer Entfernung, immerhin 54 bedeutende Organisten anreisten. 
1604 wurde Praetorius zum Hofkapellmeister des Herzogs ernannt. Nach dem Tode seines Dienstherren im Jahre 1613 finden wir ihn am kursäch- sischen Hof in Dresden. Er reiste wahrscheinlich sehr viel – belegt sind Aufenthalte beispielsweise in Sondershausen, Kassel, Magdeburg, Nürnberg, Leipzig und Bayreuth. So wirkte der Musiker als Organisator, Dirigent, Musikberater und Diplomat an verschiedenen Orten. Außerdem komponierte er fleißig; überliefert sind zahlreiche Werke, sowohl Kirchen- musik als auch weltliche Klänge. Wie er daneben noch Unmengen an Briefen sowie sein dreibändiges Syntagma musicum, das als erstes Handbuch der Musikwissenschaft überhaupt gilt, schreiben konnte, das lässt uns heute sehr staunen. 
Wenn man Praetorius heute zumeist nur noch als Urheber des bekannten Chorsatzes zu Es ist ein Ros' entsprungen sowie vom Quempas-Singen kennt, dann ist das zu bedauern. Spätestens nach dem Anhören der vorliegenden Einspielung wird man sich auf die Suche nach weiteren Aufnahmen machen. Da dürfte so manche Überraschung warten. Denn der Komponist gehörte jener Musikergeneration an, die versuchte, den deutschen protestantischen Choral mit dem italienischen Madrigal zu verknüpfen, um dadurch eine wesentlich tiefgründigere Textausdeutung zu erzielen. Aus der Vokalmusik leitet Praetorius zudem die Formen für seine Orgelmusik ab; so entwickelt er aus der Choralbearbeitung die ebenso umfangreiche wie ausdrucksstarke Choralmotette. Schlichte homophone Sätze umstrickt er kreativ mit Kontrapunktik und figurativem Zierrat, und niemals gehen ihm dabei die Ideen aus. So wird die Orgelmusik dieses Großmeisters auch nie langweilig, egal, wie lang die Stücke sind. 
Flamme musiziert an der Treutmann-Orgel in der Klosterkirche St. Georg zu Grauhof. Dieses Instrument wurde 1737 von dem Magdeburger Orgelbauer Christoph Treutmann vollendet. Es vereint Elemente sowohl aus der nord- als auch der mitteldeutschen Tradition, und wurde 1989-92 durch die Firma Hillebrand, Altwarmbüchen bei Hannnover, grundlegend restauriert. Flamme nutzt die reiche Palette an Klangfarben, die ihm dieses Instrument zur Verfügung stellt, gekonnt. Und weil die wenigen erhaltenen Orgelwerke von Michael Praetorius die beiden Silberscheiben nicht ganz füllen, ergänzt der Organist das Programm noch durch die kleineren Orgelgesamtwerke von David Abel, Johann Bahr, Jakob Bölsche, Petrus Hasse I und II, Wilhelm Karges, Hieronymus Praetorius III, Andreas Werckmeister und Melchior Woltmann. Wer sich für norddeutsche Orgelmusik interessiert, der kommt an dieser Einspielung jedenfalls nicht vorbei. 

Bach: Complete Organ Music - Volume 3 (Brilliant Classics)

Stefano Molardi hat sich für seine Gesamteinspielung des Orgelwerks von Johann Sebastian Bach nicht nur drei reizvolle Instrumente ausgesucht. Er folgt zudem bei diesem editori- schen Großprojekt nicht einfach dem Bach-Werkeverzeichnis, sondern er hat mit großer Sorgfalt ein Programm passend zur Orgel zusammengestellt. Deshalb bietet jede einzelne CD klanglich wie kompositorisch Abwechslung in Hülle und Fülle. So kommt auch beim weniger Bach-affinen Zuhörer keine Langeweile auf. Wenn man allerdings zielge- richtet ein bestimmtes Werk anhören will, nun, dann muss man eben suchen. 
Im dritten Teil der Gesamtaufnahme erklingt die Orgel der St.-Jacobi-Kirche im thüringischen Sangerhausen. Der junge Bach hatte sich dort 1703 – erfolglos – um die vakante Organistenstelle beworben. Zu diesem Zeitpunkt existierte allerdings das Instrument noch nicht, dass hier zu hören ist; es wurde 1727/28 durch Zacharias Hildebrandt (1688 bis 1757), einen Schüler von Gottfried Silbermann, erbaut. Er hatte seine Werkstatt in Liebertwolkwitz bei Leipzig, und war mit Bach befreundet, der seine Orgeln sehr schätzte. 
Bach dürfte Hildebrandt auch zu dem Auftrag aus Sangerhausen verholfen haben. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Orgel allerdings mehrfach verändert. Ein Dachstuhlbrand im Jahre 1971 machte sie dann endgültig unspielbar. 1978 wurde das Instrument durch die Firma Eule Orgelbau aus Bautzen restauriert. Es klingt nicht so strahlend-metallisch wie die Silber- mann-Orgeln, sondern sanfter, gedeckter. 
Molardi musiziert an der Hildebrandt-Orgel virtuose Werke wie Toccata und Fuge in d-Moll BWV 538, das Concerto in a-Moll nach Vivaldi BWV 593 und das Concerto nach Johann Ernst von Sachsen-Weimar BWV 592, aber auch Stücke aus dem berühmten Orgelbüchlein, sowie Choralvorspiele und Choralbearbeitungen. Enthalten sind Kompositionen im französi- schen und italienischen Stil, so das Pièce d’orgue BWV 572 oder Toccata, Adagio und Fuge in C-Dur BWV 564, zudem die Canonischen Verände- rungen BWV 769a, Präludium und Fuge in a-Moll BWV 551 und noch einige weitere Werke. Das Beiheft enthält ausführliche Hinweise von Stefano Molardi zu den einzelnen Musikstücken sowie eine Künstlerbio- graphie und die Angaben zur Orgel-Disposition.