Man schreibt das 17. Jahrhundert. Ganz Italien ist vom Opernfieber befallen. Die soeben neu entstan- dene Gattung wird überall gefeiert. Überall? Nicht ganz. Denn in Rom durften Opern jahrzehntelang ausschließlich in geschlossener Gesellschaft erklingen. Der Kirchenstaat, der zumindest nach außen hin gern tugendhaft er- scheinen wollte, fand all diese Geschichten um Liebe, Lust, Leidenschaften und all die antiken Helden und Götter moralisch ziemlich bedenklich. Und dass Frauen singen, war in Rom damals gänzlich undenkbar.
"Die kirchliche Dekadenz", so spottete seinerzeit ein Franzose, "lässt im Theater in Frauenrollen nur hübsche junge Burschen auftreten, für die teuflische Kesselflicker das Geheimnis gefunden haben, wie sich ihre hohen Stimmen erhalten lassen. Als Mädchen gekleidet, mit ihren Hüften, dem breiten Hintern, der weiblichen Brust, dem runden und fülligen Hals kann man sie tatsächlich für Mädchen halten." Doch auch die männlichen Helden wurden zumeist von Kastraten gesungen; für Tenöre und Bässe wurden nur selten bedeutende Partien geschrieben.
Das sorgte in späteren Jahrhunderten für Verwirrung, denn mit dem Ende der grausigen Kastrationen verschwanden natürlich auch die Sopranisten und Altisten von den Bühnen; die Heldenpartien wurden nun durch Frauen gesungen, was mitunter ziemlich komisch wirkt, oder für "richtige" Männerstimmen transponiert, was auch gewisse Probleme mit sich bringt.
Auch Vivaldis Oper Ercole sul Termodonte, die die bekannte Ge- schichte der Auseinandersetzung des Herkules mit den Amazonen erzählt, stellt heutzutage mit den teilweise extrem schwierigen Kastratenpartien die Frage nach der Besetzung. In diesem Falle wurde sie nach Stimmfach gelöst - und das ganz achtbar. Für diese Einspie- lung mit dem Orchester Europa Galante und dem Coro da Camera Santa Cecilia di Borgo San Lorenzo unter Fabio Biondi hat Virgin Classics ein wahres Star-Ensemble aufgeboten: Vivica Genaux, Joyce DiDonato, Patrizia Ciofi und Diana Damrau sind als Amazonen zu hören, Rolando Villazón ist als Ercole zu erleben, und Romina Basso, Philippe Jaroussky und Topi Lehtipuu singen die Griechen in seiner Begleitung. Das hat sich durchaus gelohnt, denn mit einigen wenigen Einschränkungen ist die Aufnahme sehr gelungen. Selbst Villazón kommt mit den Anforderungen der "Alten" Musik erstaunlich gut zurecht. Und Diana Damrau ist eine ganz entzückende Martesia.
Auch für die Rekonstruktion der Partitur war ein erheblicher Auf- wand erforderlich. Denn das Werk, das Vivaldi seinerzeit in Rom den Durchbruch als Opernkomponist brachte, war nur in Fragmenten erhalten. Glücklicherweise hatte der Maestro seinerzeit nicht jede Arie für jede Oper neu geschrieben. So stellten die Musiker, die versuchten, die Überreste zu ergänzen, bald fest, dass Vivaldi nahezu alle Arien auch anderweitig eingesetzt hat. Um sie erneut zu ver- wenden, wurden damals allerdings erhebliche Anpassungen vorge- nommen - einerseits im Hinblick auf dramaturgische Zusammen- hänge, andererseits mit Blick auf die Möglichkeiten der beteiligten Sänger.
"Zwei wichtigen Faktoren haben wir zu verdanken, dass Vivaldis Ercole sul Termodonte in fast voller Länge wieder zugänglich gemacht werden kann", schreibt Fabio Biondi im Beiheft: "Zum einen ist das vollständige und authetische Libretto vorhanden, das 1723 für die Aufführung am Teatro Capranica in Rom benutzt wurde, zum anderen sind, verteilt auf Bibliotheken in Paris, Münster, Turin und anderen Orten, fast alle Arien in unterschiedlichen Quellen erhalten." Ein kritischer Apparat beschreibt die jeweiligen Funde und den Umgang mit diesem Material. Selbst den Text kann in dem sorgsam erstellten Beiheft mitlesen, wer möchte. Meine Empfehlung!
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