Mit der Oper Hänsel und Gretel sicherte sich Engelbert Humper- dinck (1854 bis 1921) seinen Platz im Spielplan bis zum heutigen Ta- ge. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit erfreut nahezu jedes Opernensem- ble in Deutschland sein kleines Publikum mit der Geschichte der beiden tapferen Kinder, die die tückische Hexe überwinden, und aus dem finsteren Wald zurück in ein Elternhaus finden, dass einem gleich sehr viel weniger trostlos erscheint.
Es ist wenig bekannt, dass der Komponist neben diesem Erfolgsstück auch noch weitere Märchenopern geschaffen hat. Eine davon er- schien nun bei dem Label cpo: Dornröschen basiert auf einem Libretto der Berliner Jugendbuchautorin Elisabeth Ebeling, das sie mit Unterstützung ihrer Freundin Bertha Lehmann-Filhés verfasst und 1895 an den Komponisten gesandt hatte.
Doch der verspürte offenbar wenig Lust, die betulichen Verse zu vertonen. Erst nachdem Humperdinck 1900 einen Ruf an die preußische Akademie der Künste erhalten und Ebeling der gesamten Familie Quartier in ihrer Villa gewährt hatte, sah er sich genötigt, das Werk in Musik zu setzen. 1902 wurde das "Ausstattungsstück mit allerhand Musik", wie es Humperdinck selbst ironisch nannte, schließlich in Frankfurt/Main uraufgeführt.
Die Frankfurter Zeitung urteilte damals, das Werk sei ein "Virtuosen- stück für den Dekorationsmaler und Theatertechniker". Denn die Dichterin hat das bekannte Märchen der Gebrüder Grimm erheblich ergänzt. Da gibt es einen Prinzen Reinhold, mit dem die Prinzessin verlobt werden soll - bevor sie in den Schlaf sinkt, wohlgemerkt - und nach den hundert Jahren wird sie sein Enkel, der ebenfalls Reinhold heißt, erlösen. Allerdings muss dieser dazu nicht nur die Dornenhecke überwinden, sondern auch die verlorengegangenen Verlobungsringe wieder auftreiben, und den Verführungskünsten der bösen Fee Dämonia widerstehen. Schafft er das nicht pünktlich bis zum Ende der Frist, stirbt Prinzessin Röschen - und mit ihr der ganze schlummernde Hofstaat. Natürlich hat das Märchen ein Happy End, doch zuvor muss der Held bis zu den Sternen reisen, um dann im Reich der Zwerge - Nibelheim lässt grüßen - die Ringe aufzuspüren.
Durch diese Erweiterung der eigentlichen Dornröschen-Geschichte erhält das Märchen eine philosophische Dimension: Prinz Reinhold wird sein eigentlicher Held, und er muss Treue, Mut und Einsatz zeigen, um die Prinzessin zu retten. In zahlreichen Details dieser Handlung wird das Vorbild Wagner sichtbar, in Humperdincks Musik allerdings eher ironisch gebrochen. Und in den eher melodramati- schen Abschnitten, wo gesprochene Dialoge durch Musik kontrastiert werden, meint man gelegentlich sogar, die gute alte Operette kichern zu hören.
Die Dimension eines Singspiels für Kinder jedenfalls sprengt die Handlung dieses "Märchens in einem Vorspiel und drei Akten". Und die umfangreiche Besetzungsliste hat sicherlich auch mit dazu bei- getragen, dass das Werk sich im Repertoire nicht halten konnte. Es ist dennoch schön, dass das Münchner Rundfunkorchester sowie der Chor des Bayerischen Rundfunks mit einer ausgewogenen Solisten- riege unter der musikalischen Leitung von Ulf Schirmer das Werk nun auf CD zugänglich gemacht hat. Auf die Bühne zurück wird es wohl eher nicht finden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen