Dass Johann Sebastian Bach eine Markus-Passion geschrieben hat, ist schon seit längerem bekannt. Den Text dazu hat Christian Friedrich Henrici, besser bekannt unter seinem Pseudonym Picander, Bachs wichtig- ster Textdichter, neben anderen in seinen Ernst-, Schertzhafften und Satyrischen Gedichten veröffentlicht. Doch die Musik dazu ist leider verloren. Aus Picanders Druck ist zudem das Datum der Uraufführung zu erfahren – es war Karfreitag, der 23. März 1731. Bekannt ist zudem, dass eine weitere Aufführung 1735 in Delitzsch bei Leipzig stattgefunden hat.
Im Jahre 2009 wurde in der Russischen Nationalbibliothek in St. Peters- burg ein weiterer, bislang unbekannter Textdruck der Markus-Passion entdeckt. Er enthält das Libretto einer Spätfassung aus dem Jahr 1744. Daran wird erkennbar, dass Bach auch diese Passion offenbar mehrfach überarbeitet hat. Denn diese Version enthält unter anderem den Text zweier neuer Arien, sowie eine Vielzahl von kleineren Änderungen.
1873 erkannte Wilhelm Rust bei der Arbeit an der Bach-Gesamtausgabe, dass der Komponist für fünf Sätze der Markus-Passion BWV 247 Teile der Trauer-Ode Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl BWV 198 umgearbeitet hat. Einige Chorsätze aus der Trauer-Ode hatte er zuvor bereits in die Trauerkantate BWV 244a für Fürst Leopold von Anhalt-Köthen inte- griert. Das sogenannte Parodieverfahren, bei dem vorhandene Musik mit einem neuen Text versehen und musikalisch angepasst in einem neuen Werk wiederverwendet wird, war zu Bachs Zeiten üblich. Bach wäre vermutlich sehr erstaunt gewesen, zu erfahren, dass in späteren Jahrhun- derten, die das Originalgenie als Maß aller Dinge verehrten, diese Stücke als zweitrangig und minderwertig angesehen wurden.
Wenn aber Bach selbst seine Werke solcherart recycliert hat – warum dann nicht den Versuch wagen, die verschollenen Klänge wiederzubeleben? Und so haben Musikwissenschaftler in den überlieferten Stücken des Thomas- kantors akribisch nach passenden Teilen gesucht, um sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Für die Spätfassung der Markus-Passion hat der Cembalist Alexander Grychtolik, ein erfahrener Spezialist für historische Aufführungspraxis, eine Rekonstruktion gewagt. Sie wurde nun durch die Knabenkantorei Basel und das Capriccio Barockorchester unter Markus Teutschbein aufgeführt; als Solisten wirkten mit Gudrun Sidonie Otto, Sopran, Terry Wey, Altus, Daniel Johannsen, Tenor – ein großartiger Evangelist! –, Hanno Müller-Brachmann, Bass – Jesus und Stephan MacLeod, Bass – Arien. Die Ersteinspielung ist bei Rondeau erschienen.
Sie ist durchaus hörenswert; allerdings hat Bach selbst seine Musik meist recht radikal verändert, wenn er sie für ein neues Werk genutzt hat. Insofern erscheint es diskussionswürdig, ob man eine derartige Rekon- struktion überhaupt wagen kann. Denn bleibt man nahe am erhaltenen Notentext, wird man Bach möglicherweise nicht wirklich gerecht. Je mehr man sich aber von der Überlieferung entfernt, desto spekulativer wird es – und jeder Versuch, aus heutiger Perspektive Bach zu imitieren, muss zwangsläufig scheitern. Gott würfelt nicht.
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