Gibt es eine „wahre“ h-Moll-Messe? Hans-Christoph Rademann, neuer Leiter der Internationalen Bach- akademie Stuttgart, hat sich gemeinsam mit dem Bachforscher Uwe Wolf auf die Suche nach dem „unverfälschten“ Werk begeben. Entstanden ist die „große catho- lische Messe“, wie sie Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel nannte, über einen langen Zeitraum. Bach begann seine Arbeit an diesem Werk, um nach dem Tode Augusts des Starken 1733 seinen neuen Landesherrn, den sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. von Sachsen, damit zu beeindrucken, auf dass ihn derselbige im Gegenzug mit einem Hoftitel ehre. Ein Stimmensatz von Kyrie und Gloria befindet sich daher in der Musikaliensammlung des kursächsischen Hofes, heute im Bestand der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden.
In seinen letzten Lebensjahren schließlich hat der Komponist das Opus noch einmal überarbeitet und durch Hinzufügung von Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei von einer Kyrie-Gloria-Messe zu einer Missa tota erweitert. Dazu hat er Teile aus anderen Werken übernommen und bearbeitet; einige Abschnitte hat er auch gänzlich neu geschrieben. Als Bach starb, hatte er die h-Moll-Messe fertiggestellt. Die autographe Partitur befindet sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin.
Das Manuskript besaß einst Carl Philipp Emanuel Bach; er setzte sich aktiv für die Verbreitung des Werkes ein, aber er hat auch sehr viel hineinge- schrieben, wo ihm Stellen unleserlich, unverständlich oder undeutlich erschienen. Musikwissenschaftlern ist es in mühevoller Arbeit gelungen, diese Eingriffe zu identifizieren und weitgehend den ursprünglichen Notentext zu edieren. Dabei war es sehr hilfreich, dass es eine große Anzahl von Abschriften gibt – der Bach-Schüler Johann Philipp Kirn- berger beispielsweise besaß eine, Prinzessin Anna Amalia von Preußen ebenfalls, und Baron Gottfried van Swieten, österreichischer Gesandter am preußischen Hof, erwarb in Berlin eine Kopie, die später in Wien Haydn, Mozart und auch Beethoven aufmerksam studierten.
Bach selbst hat dieses Werk in seinen meisten Teilen wohl niemals auf- geführt. Erst die Romantiker holten die h-Moll-Messe aus der Schublade. Im 19. Jahrhundert wurzelt die Aufführungstradition dieses Werkes – und danach klingen auch die meisten Einspielungen noch heute; man höre nur die alte Aufnahme mit der Gächinger Kantorei unter ihrem Begründer Helmuth Rilling. Sein Nachfolger Rademann hat nun vieles geändert. So hat er den Chor erheblich verkleinert und auf einen schlanken, transparenten Klang eingeschworen. War man von den Gächingern bisher eher Breitwand-Bach in großer Besetzung gewohnt, so wird man nun erfreut feststellen, dass Leichtigkeit und Eleganz die neue Einspielung prägen. Dazu tragen auch die Musiker des Freiburger Barockorchesters bei, die ihren Part mit Präzision und Spielfreude gestalten.
Die Aufnahme basiert auf der aktuellen Notenedition aus dem Carus-Verlag; sie beruht nicht allein auf dem Berliner Partiturautographen, sondern bewertet in jenen Teilen, die Bach einst für den Kurfürsten geschaffen hat, den Dresdner Stimmensatz als den von Bach am weitesten ausgearbeiteten Notentext und somit als Hauptquelle. Das bringt einige reizvolle Veränderungen mit sich, beispielsweise im Domine Deus und im Quoniam.
Die erste CD ermöglicht es, die h-Moll-Messe als Kyrie-Gloria-Messe in der Fassung von 1733 anzuhören. Auf der zweiten CD erklingt dann nicht nur jener umfangreiche Rest, um den der alte Bach sein Werk später ergänzt hat. Zu hören sind auch jene Alternativfassungen aus der Partitur, die sie sich stark von der frühen Version unterscheiden, sowie eine ursprüngliche Variante von Sanctus und Pleni sunt coeli aus dem Jahre 1724. Damit hat diese Aufnahme in jedem Falle einen hohen musikhistorischen Wert. Auch wenn man darüber, welches nun die „wahre“ h-Moll-Messe ist, auch weiterhin auf so manchem Kolloquium wird diskutieren können.
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