Die Spuren einer ganz erstaunlichen Manipulation präsentiert Christoph Spering mit seinen Ensembles Das Neue Orchester und Chorus Musicus Köln auf dieser CD. Ein feste Burg ist unser Gott von Johann Sebastian Bach beruht auf dem berühmten Choral von Martin Luther, und gehört zu den bekanntesten Kantaten des einstigen Leipziger Thomaskantors.
Auf dieser CD erklingen zum ersten Mal alle bekannten Versionen der Kantate.
Ihre Geschichte beginnt in Weimar, wo Bach vermutlich im Jahre 1715 eine Kantate über Ein feste Burg ist unser Gott komponierte – Alles, was von Gott geboren BWV 80a; ihre Musik ist nicht überliefert. In Leipzig arbeitete Bach dann dieses Werk um zu einer Choralkantate BWV 80b, von der ein vierstimmiger Eingangschoral komplett sowie ein weiterer Satz als Fragment erhalten geblieben sind. In späteren Jahren entstand daraus die Kantate Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80.
Wilhelm Friedemann Bach, der älteste Bach-Sohn, hat dann zwei mar- kante Sätze zu lateinischen Hymnen umgestaltet – Manebit verbum Domini und Gaudete, omnes populi. Dazu hat er der Musik seines Vaters den neuen Text unterlegt, und einen dreistimmigen Trompetenchor mit Pauken hinzugefügt.
In der Notenedition Sämtliche Werke Johann Sebastian Bachs, 1850 zum hundertsten Todestag des Komponisten gestartet, ist die Kantate im Jahre 1870 erschienen. Die Herausgeber machten daraus, ganz im Zeitgeist, ein festlich-heroisches Opus – indem sie die Version des Bach-Sohnes ver- wendeten, die sie wiederum mit dem Text der originalen Bach-Kantate versahen. Seitdem wird Ein feste Burg ist unser Gott mit Pauken und Trompeten aufgeführt, zur Erhebung des Kirchenvolkes und zum patheti- schen Preis des deutschen Protestantismus.
Spering gestaltet mit dieser Einspielung zugleich eine kritische Bestands- aufnahme der gegenwärtigen Aufführungspraxis. „Interpretiert wird, was gefällt, um es pauschal zu sagen: weit, schnell. Laut und gefühlig“, fasst es der Dirigent im Beiheft zusammen. „Man könnte es weiter zuspitzen: Die Wucht der Massenchöre ist schon längst durch schnelle oder individuelle Tempi ersetzt worden.“
Spering wiederum lässt die Version aus dem 19. Jahrhundert bewusst subjektiv musizieren, in erster Linie auf Effekte zielend. Bachs Original hingegen erklingt puristisch, so der Dirigent, „mehr auf Affekte und das Wort beziehungsweise auf den Satzsinn hin angelegt.“ Dazu setzt sich Spering sogar über die Neue Bach-Ausgabe hinweg; er verzichtet bei der Choralstrophe Und wenn die Welt voll Teufel wär auf die Oboen und auf den Chor, und lässt sie nur durch die die Solisten singen. Um die Unter- schiede deutlich herauszuarbeiten, setzt er zudem in den beiden Versionen jeweils andere Solisten ein. Ein musikalisches Erkundungsprojekt mit durchaus überraschenden Resultaten – man traue keiner Notenedition! Für diese Erkenntnis muss man dem Label Deutsche Harmonia Mundi sowie dem Deutschlandfunk, der diese Koproduktion mit ermöglicht hat, sehr dankbar sein.
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