Musikwissenschaftler waren einst der Meinung, in der Zeit nach Bach sei es zu einem Verfall der Kirchenmusik gekommen. Michael Alexander Willens macht mit dieser CD deutlich, dass es sich bei diesem Diktum um ein Vorurteil handelt. Fünf Kantaten sind hier in Ersteinspielung zu hören – und jede von ihnen überzeugt. Ausgewählt wurden Werke der Bach-Zeitgenossen Christoph Förster (1693 bis 1745) und Gottfried Heinrich Stölzel (1690 bis 1749) sowie Kanta- ten der nachfolgenden Generation, sie stammen von Gottfried August Homilius (1714 bis 1785) und Johann Heinrich Rolle (1716 bis 1785). Entstanden sind sie für den Gebrauch im evangelischen Gottesdienst; auch ihre Struktur ist jeweils ähnlich: Auf einen üppigen Eingangschor folgen abwechselnd Rezitative und Arien, und zum Schluss erklingt eine Choral- strophe.
Überaus prächtig beginnt die CD mit Kreuzkantor Homilius' Erhöhet die Tore der Welt, besetzt sogar mit drei Trompeten nebst Pauken – eine beeindruckende Huldigung an den kommenden Herrscher der Erden, die mit einer deutschen Nachdichtung des Te Deum endet. Die Kantate Künd- lich groß ist das gottselige Geheimnis von dem Gothaer Hofkapellmeister Gottfried Heinrich Stölzel hingegen ist für den dritten Weihnachtstag bestimmt und daher kunstvoll mit kammermusikalischen Mitteln gestaltet, sie weicht auch in ihrer Struktur vom oben beschriebenen Schema ab: Auf Rezitative wird verzichtet, dafür erklingt zwischen den beiden Arien, die das Geheimnis und seine Auswirkungen beschreiben, eine zusätzliche Choralstrophe.
Christoph Förster, zunächst Kammermusiker und Konzertmeister in Merseburg, nach dem Tode seines Dienstherrn dann ab 1743 Vize-Kapellmeister ohne feste Besoldung in Rudolstadt, setzt für seine Kantate Ehre sei Gott in der Höhe ganz auf festlichen Glanz. Pauken und Trompe- ten erklingen in den Chören, und in der zentralen Arie wetteifert der Sopran in Koloraturen mit einer konzertierenden Traversflöte.
Gleich mit zwei Kantaten vertreten ist Johann Heinrich Rolle, Musikdirek- tor in Magdeburg. Wer sich für Details der Biographien aller vier Musiker interessiert, der kann sie hier im Blog an anderer Stelle finden – am ein- fachsten übrigens durch Klicken auf den jeweiligen Namen unten bei den Labels. Einmal mehr fragt man sich beim Anhören dieser stimmungsvollen Musik, wie es sein kann, dass Rolle und sein Schaffen derart in Vergessen- heit geraten konnten. In seiner Weihnachtskantate Siehe, Finsternis bedecket das Erdreich stellt er eindrucksvoll – auch klanglich – die dunk- len Mächte der Hölle und das strahlende Licht der Gnade Gottes einander gegenüber. In Jauchze, du Tochter Zion hingegen steht der Weihnachts- jubel im Mittelpunkt. Mit dem exzellenten Vokalisten-Doppelquartett, ergänzt durch den Tenor Georg Poplutz, und den ebenfalls exquisiten Instrumentalisten der Kölner Akademie hat Willens einmal mehr die Raritätenkollektion des Labels cpo um eine wertvolle Einspielung berei- chert. Grandios!
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