Dienstag, 23. März 2010

Bach: Matthäus-Passion; Chailly (Decca)

Auch wenn die Leipziger zu Bachs Lebzeiten wenig mit dem Werk anfangen konnten - wer heute im Musikleben der mitteldeutschen Messestadt zu den führenden Köpfen zählt, der kommt um die Matthäus-Passion nicht herum. Bachs monumentale Passions- musik aber ist mittlerweile in derart vielen Varianten auf CD erhältlich, dass es schwierig erscheint, noch eine weitere Einspielung auf den Markt zu bringen. 
Als Referenzaufnahme gilt zumal die Aufnahme von 1970 mit dem Thomanerchor und den Kruzianern sowie dem Gewandhausorchester Leipzig unter den Gebrüdern Mauersberger, mit solchen Solisten wie Peter Schreier oder Theo Adam. Gewandhaus-Kapellmeister Riccardo Chailly hat das Werk dennoch mit seinen Musikern im vergangenen Jahr für das Label Decca erneut eingespielt. Das ist, wie schon gesagt, mutig - doch das Ergebnis vermag zu überzeugen; ich halte diese Aufnahme insgesamt für gelungen. 
Das Gewandhausorchester musiziert auf modernen Instrumenten, und in gar nicht so kleiner Besetzung. Chailly entschied sich für eine Interpretation, die sich einerseits streng an barocken Traditionen orientiert: Die Musik wird zum Medium im Dienste des Wortes, sie transportiert den Text und legt ihn zugleich aus. Andererseits erinnert Chailly hier und dort durchaus auch an die romantische Wiederentdeckung des Werkes - musiziert wird mit Leidenschaft, ab und zu auch einem Schnörkelchen und ausgesprochen häufigen Abweichungen vom Grundtempo. 
Die Tempi sind durchgängig flott gewählt; ob das sein muss, darüber ließe sich trefflich streiten. Allein in diesem Falle funktioniert dieses Konzept erstaunlich gut. Schon der Eingangschor zieht den Zuhörer mitten hinein in ein Geschehen, das wie ein Strudel alles in eine Richtung zwingt, und kein Entrinnen zulässt - bis schließlich der Schlusschor erklingt, alles vorbei ist, und auch die Gemeinde "mit Tränen" vor dem Grab Christi sitzt, wo sie der Auferstehung harrt. 
Die Solistenriege ist fast durchweg sehr jung und solide, aber nicht überragend besetzt. Bach war seinerzeit noch in der Lage, die Matthäus-Passion ausschließlich mit seinen Thomanern aufzuführen. Chailly nahm, und das ist eine kluge Entscheidung, den Tölzer Knabenchor hinzu. Die beiden Knabenchöre unterscheiden sich im Klang deutlich. Zwar verfügen die Thomaner in den Männerstimmen über ein profundes Fundament. Aber darüber schwebt ein Klang, den man - positiv formuliert - "ätherisch" nennen könnte. Die Gäste singen ebenfalls perfekt; aber sie klingen frischer, obertonreicher, und insgesamt deutlich runder. So wird die Doppelchörigkeit zum Erlebnis.

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