Sonntag, 29. August 2010

Schumann: Scenen - Matthias Kirschnereit (Berlin Classics)

"Es ist das Klavier, mit dem Robert Schumann die Bühne seines künst- lerischen Schaffens betritt und we- nige Tage vor seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt wieder verlässt", sagt der Pianist Matthias Kirschnereit. "Dabei spielt zeit- lebens das kurze, scharf umrissene Charakterstück eine dominierende Rolle." In diesen Miniaturen, die oft nur wenige Minuten dauern, fand der Komponist die Form, die ihm sowohl den Ausdruck der widerstrebenden Facetten seiner Persönlichkeit als auch seiner Eindrücke, Gefühle und Gemüts- zustände ermöglichte.
Die Beschäftigung mit Schumanns Gedanken, Ideen und Visionen sieht Kirschnereit als eine "Seelenreise", als Abenteuer: "Und es ist bewegend, nachzuempfinden, wie sich der Enthusiasmus, das jugendliche Ich-Gefühl, das Verliebtsein, die schroffen Extreme, die strahlenden Kreuz-Tonarten des frühen Schumann im Verlaufe seines Schaffens mehr und mehr abmildern, nach innen kehren - bis hin zu den erschütternden 'Geistervariationen'."
Damit ist auch das Konzept der vorliegenden CD beschrieben: Kirschnereit beginnt mit den Papillons op. 2, entstanden bis Anfang 1832, ergänzt dann die Kinderscenen op. 15. "Und daß ich es nicht vergeße, was ich noch componirt", schrieb Schumann 1838 an seine Verlobte Clara Wieck: "War es wie ein Nachklang von Deinen Worten einmal wo Du mir schriebst 'ich käme Dir auch manchmal wie ein Kind vor' - Kurz, es war mir ordentlich wie im Flügelkleid und hab da an die 30 kleine putzige Dinger geschrieben, von denen ich ihrer zwölf ausgelesen und 'Kinderscenen' genannt habe. Du wirst Dich daran erfreuen, mußt Dich aber freilich als Virtuosin vergeßen".
Nach den 18 "kleinen putzigen Dingern", die nicht Aufnahme in die Kinderszenen fanden, suchen Musikwissenschaftler noch heute - und manchmal haben sie offenbar sogar Glück. So fand die Bibliothekarin Roswitha Lambertz in Überlingen 2006 bei der Erfassung eines Nachlasses 24 Takte von Robert Schumann - "Herrn Julius Allgeyer mit dem Wunsche, daß immer sanfte Töne Ihn begleiten mögen", so die Widmung Clara Schumanns, die das Blatt 1856 verschenkt hatte. Das Stück Ahnung erklingt hier als Ersteinspielung. 
Es ist erstaunlich, wie oft Werke von Robert Schumann Literatur reflektieren. Beschäftigten ihn in seinen Jugendjahren die Bücher von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, so war es das Jagdbrevier von Hein- rich Laube, dass den Komponisten 1849/50 inspirierte, eine Folge von neun Klavierstücken zu schreiben, die er Waldscenen op. 82 nannte. Sie sind ähnlich dunkel und geheimnisvoll wie der Wald - der hier nicht nur als romantischer Rückzugssort gezeigt wird, sondern zugleich auch als unheimliche Gegenwelt, in der eine latente Bedrohung lauert. Eines dieser Stücke, Vogel als Prophet, empfand der Schriftsteller Hermann Hesse als "hold und geheimnisvoll". Er gehört offenkundig auch zu den Lieblingsstücken Kirschnereits; während die Jugendwerke eher beliebig wirken, gelingt dem Pianisten hier eine grandiose Interpretation.
Folgt man dem Lebensweg Schumanns weiter, muss man bald erkennen, was der Vogel angekündigt hat: Thema und Variationen in Es Dur, die sogenannten Geistervariationen, sind Schumanns letztes vollendetes Werk. Er notierte sie unter größten Qualen, von Stimmen gepeinigt; am 27. Februar 1854 fertigte er eine Reinschrift an - und lief mitten in der Arbeit davon, "nur im Rock, im schrecklichsten Regenwetter, ohne Stiefel, ohne Weste", so wird berichtet. Der Düsseldorfer Musikdirektor eilte zum Rhein, warf erst seinen Ehering hinein, und sprang dann selbst ins eisige Wasser. Wenige Tage später begab er sich in eine Nervenheilanstalt; dort starb er 1856. 
Die Geistervariationen wurden erst 1939 veröffentlicht; seit 1995 steht eine Urtext-Ausgabe zur Verfügung. Kirschnereit beendet mit diesem seltsamen Werk sein musikalisches Porträt Schumanns. Seine luzide, reduzierte, analytisch angelegte Interpretation dieses selten zu hörenden Stückes ist für mich der Höhepunkt dieser CD. Unter all den Aufnahmen, die zu Schumann-Jubiläum erschienen sind, ist das mit Sicherheit die spannendste, originellste - und auch pianistisch-handwerklich gehört diese CD ohne Zweifel zu den besten Neuerscheinungen des Jahres. Bravo!

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