Die vierte CD der Reihe „Norddeut- sche Orgelkunst“ beschäftigt sich mit Orgelmusik aus Lüneburg. Nach Lübeck, Danzig und Hamburg rückt somit eine Stadt in den Blick, die nicht gerade als musikalisches Zentrum gilt. Was also, einmal abgesehen von der Nähe zu Hamburg, bewog seinerzeit den 14jährigen Johann Sebastian Bach, aus dem thüringischen Ohrdruf in die Fremde zu ziehen? Einen Freitisch hätte der Waisenknabe mit der schönen Sopranstimme ganz sicher auch an einer Lateinschule im heimatlichen Thüringen bekommen können.
Was also fand der junge Bach in Lüneburg vor? Die Lateinschule am ehemaligen Michaeliskloster, die Jugendliche aus dem Bürgertum auf das Studium vorbereitete, befand sich direkt neben der Ritterakademie, in der der Nachwuchs des Adels lernte. Sie verfügte über eine der größten Chorbibliotheken evangelischer Kantoreien. Direkt am Marktplatz hatten die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg erst vor kurzem ein neues Residenzschloss errichtet. Dort wurde garantiert auch musiziert – ebenso wie in den vier Großkirchen der Stadt.
Martin Rost, Kantor und Organist an der Marienkirche zu Stralsund, hat für die vorliegende Einspielung Orgelmusik aus Lüneburg herausgesucht. So erklingen die vier überlieferten Orgelwerke von Johann Steffens (1559/60 bis 1616). Er wirkte als Kantor an St. Johannis, und gilt als einer der Ahnväter der norddeutschen Orgelschule. Peter Morhard (um 1635 bis 1685) war Organist an St. Michaelis. Auf der CD sind drei Stücke von ihm zu hören. An St. Lamberti musizierte Christian Flor (1626 bis 1697), mög- licherweise der berühmteste Lüneburger Organist; seine drei erhaltenen Orgelwerke spielt Rost ebenfalls.
Georg Böhm (1661 bis 1733) verknüpfte in seinen Werken mitteldeutsche und norddeutsche Musiziertraditionen. Der Musiker, der aus Gotha stammt und in Jena studiert hat, war Organist an St. Johannis. Es wird vermutet, dass er zu den Lehrern Bachs gehörte. Sein Schaffen ist, anders als das seiner Kollegen, relativ gut belegt. Einer seiner Amtsnachfolger, Johann Christoph Schmügel (1727 bis 1798), Sohn eines Organisten aus dem mecklenburgischen Pritzier, ein Schüler Telemanns, ist ebenfalls mit Musikbeispielen vertreten. Er folgt in den hier gespielten zwei Werken wohl eher süddeutschen Vorbildern.
Und natürlich hat Rost auch frühe Werke Bachs für diese Einspielung herausgesucht. Der Organist musiziert an der Stellwagen-Orgel der Marienkirche in Stralsund – ein großartiges Instrument, errichtet von dem Lübecker Orgelmacher Friedrich Stellwagen (1603 bis 1660) als Krönung seines Lebenswerkes und zu Beginn dieses Jahrtausends sorgsam wieder restauriert. So ist es möglich, dass diese Orgel-CD mit dem Signal des Calcantenglöckchens beginnt, gefolgt vom geräuschvollen Aufseufzen der Balganlage. Das ist nicht nur ein Showeffekt. Das Beiheft bestätigt, dass den Orgelwind für die Aufnahmen tatsächlich „statt des Orgelmotors in authentischer Weise die durch Calcanten betätigten 12 Keilbälge“ geliefert haben. Das Glöckchen sendet unmissverständlich das Signal: Hier wird mit Sorgfalt, Leidenschaft und Sachverstand musiziert. Rost spielen zu hören, ist immer wieder ein Erlebnis.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen