Grigory Sokolov hat weitere Auf- nahmen für eine Veröffentlichung freigegeben. Auf CD 1 sind die vier populären Impromptus D 899 sowie die Drei Klavierstücke D 946 aus dem letzten Lebensjahr von Franz Schubert zu hören, aufgezeichnet bei einem Konzert im Mai 2013 in Warschau. Auch die zweite CD enthält einen Live-Mitschnitt, von einem Konzert im August 2013 in Salzburg. Hier spielt der Pianist die Hammerklavier-Sonate op. 106 von Ludwig van Beethoven, nebst Zuga- ben – fünf kleinen Charakterstücken von Jean-Philippe Rameau und dem Intermezzo in b-Moll op. 117 Nr. 2 von Johannes Brahms.
Sokolov erweist sich erneut als ein Meister des großen Spannungsbogens. Die Musikstücke Schuberts beispielsweise spielt er erstaunlich flott, zwar durchaus poetisch, aber frei von aller Sentimentalität. Statt romantischer Behaglichkeit zeigt er Abgründe und Ausweglosigkeit. Er setzt geradezu ruppige Akzente, und bremst vor so manchem Harmoniewechsel mit einem extremen Rubato ab, wie man es lange nicht mehr gehört hat. Dennoch passt am Ende alles zusammen; nichts wirkt gewollt oder aufgesetzt – und was Sokolov aus den Noten zu Tage bringt, das lässt einen Schubert neu hören.
Beethovens monumentale Hammerklavier-Sonate wiederum spielt der russische Pianist nicht wuchtig-heroisch, sondern schlicht, bedächtig und gänzlich ohne Pathos. Er stellt die Form in den Vordergrund, und arbeitet mit großer Sorgfalt eine Fülle von Details heraus. So vermeidet er den Eindruck des Kolossalen; das Werk erweist sich, wie Sokolov es liest, als erstaunlich feingliedrig und durchaus traditionsbezogen. Man höre nur die irrwitzige Fuge im letzten Satz – Sokolov musiziert stets überlegt und überlegen, alles ist wohlgeordnet, und es gibt keinen einzigen Moment, in dem er nicht die Strukturen ebenso wie den Klang im Griff hätte. Höhepunkt der Aufnahme ist aber der dritte Satz, Adagio sostenuto, von dem man gar nicht genug bekommen kann. Mehr als 20 magische Minuten schenkt der Pianist hier seinem Publikum – ich mag es nicht beschreiben; man muss es gehört haben, sonst glaubt man nicht, dass so etwas möglich ist. Ob die Sonate länger dauert, ob das Tempo langsamer ist als bei den berühmten Kollegen – diese Frage ist doch vollkommen unerheblich angesichts der Klarheit und Abgeklärtheit dieser Interpre- tation.
Als Zugabe spielt Grigory Sokolov fünf kurze Stücke von Jean-Philippe Rameau. Dabei demonstriert der Pianist nicht nur seine Virtuosität in rasanten Läufen, Trillern und wilden Sprüngen. Sie sind ihm nicht Selbstzweck, sondern Gestaltungsmittel. Rameaus Miniaturen haben, darauf weist der Komponist hin, das Ziel „peindre les passions“ – und daran arbeitet Sokolov mit großer Hingabe. Er gestaltet Les Tourbillons, die Wirbelwinde, ebenso sorgsam wie Les Tendres Plaintes, die zärtlichen Klagen, oder Les Sauvages, die Wilden. Nichts ist hier Zufall, und am Ende wird alles Ausdruck.
Als Schlusswort wählte der Pianist Brahms' b-Moll-Intermezzo – herb, sperrig, unmissverständlich. Man muss Sokolov sehr dankbar dafür sein, dass man dank dieser Aufnahmen seiner Kunst nun auch folgen kann, wenn man keine Gelegenheit hat, eines seiner Konzerte zu besuchen. Es lohnt sich, denn dieser Pianist ist ein Solitär: Grigory Sokolov ist auf der Suche nach der musikalischen Wahrheit, und geht diesen Weg kompro- misslos. Gott sei Dank.
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