Dass wir heute diese Doppel-CD mit Musik von Wselowod Petrowitsch Saderatski (1891 bis 1953) anhören können, ist eine Sensation. Zum einen ist es ein Wunder, dass der Komponist die Stalinzeit überlebt hat. Denn Saderatski stammte aus einer russischen Adelsfamilie. Er ging in Kursk zur Schule, und studierte dann am Moskauer Konservatorium. Im ersten Weltkrieg und wohl auch noch im russischen Bürgerkrieg kämpfte er unter dem Befehl von Anton Iwanowitsch Denikin. Allein die Zugehörigkeit zu den „Weißgardisten“ war seinerzeit Grund genug für ein Todesurteil.
Doch Saderatski war obendrein bis zu seiner Einberufung der Klavierlehrer des Zarensohns und Thronfolgers Alexej Romanow gewesen – was ihm ebenfalls garantiert bei den Bolschewiki keine Sympathiepunkte brachte. Erstaunlicherweise durfte er nach dem Sieg der Roten Armee dennoch sein Studium fortsetzen, und schloss es 1923 ab.
Saderatski wurde mehrfach verhaftet, so auch 1937, wo er wegen „Verbrei- tung faschistischer Musik“ – er hatte mit einem Schulorchester Werke von Richard Wagner und Richard Strauss einstudiert – zu zehn Jahren „Haft ohne Recht auf Briefwechsel“ im Nordosten Sibiriens verurteilt wurde. Diese Lager waren üblicherweise ein Ort ohne Wiederkehr; die Lebens- bedingungen dort waren besonders hart, und die Arbeit schwer.
Saderatski war, so berichtet sein Sohn, ein „Geschichtenerzähler“; die Mithäftlinge und wohl auch die Wachen schätzten ihn, und so durfte er manchmal in der Baracke bleiben, während die anderen seine Arbeit mit übernahmen. Das Arbeitslager überlebte er letztendlich auch, weil seine Frau sich vehement für ihn einsetzte; so wurde er bereits nach zwei Jahren „wegen der Schließung des Falles“ entlassen.
Für den Rest seiner Jahre aber wurde Saderatski in die Provinz verbannt. Und auch wenn er ab 1949 am Konservatorium in Lemberg unterrichten konnte, durfte seine Musik weder publiziert noch aufgeführt werden. Mehrfach wurden Werke sogar vernichtet. Dennoch komponierte Saderatski – sogar im Arbeitslager, wo es ihm gelungen ist, Papier und einen Bleistift zu organisieren. Die 24 Präludien und Fugen notierte er auf der Rückseite von Telegramm-Formularen; und weil er keinen Radier- gummi hatte, musste Saderatski darauf achten, bei der Niederschrift ja keine Fehler zu machen.
Man glaubt es kaum, aber erst im Jahre 2015 erfolgte die Uraufführung dieser Musik durch den Pianisten Jascha Nemtsov bei den 6. Internatio- nalen Schostakowitsch Tagen im Kurort Gohrisch, in der Sächsischen Schweiz. Das ist ein guter Ort für ein solches Projekt, denn das Festival widmet sich dem Themenkreis Musik und Diktatur. Eine Einspielung ist nun zudem auf zwei CD bei Hänssler Profil verfügbar.
Und sie ist faszinierend: Die 24 Präludien und Fugen von Saderatski ähneln in ihrer Konzeption und in ihrer Konsequenz den Vorbildern von Bach und Schostakowitsch. Wie diese beeindrucken sie durch ein breites Ausdrucksspektrum, das hier von barock-verspielt bis zu dramatisch-düster reicht. Saderatski arbeitet sowohl mit „klassischen“ Formen als auch mit „modernen“ Klangfarben. Oft nutzt er zudem ein Leitmotiv, das jeweils sowohl das Präludium als auch die Fuge prägt.
Die Musik ist ebenso ausdrucksstark wie einzigartig; man kann Jascha Nemtsov für diese Entdeckung daher nicht genug danken. Und man wünscht sich, den Zyklus zumindest in Teilen zukünftig auch im Konzertsaal hören zu können – Saderatskis Werk ist jede Mühe wert.
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