Nicht an historischen Tasteninstru- menten, sondern an einem modernen Konzertflügel hat Dina Ugorskaja das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach eingespielt. Aufnahmen dieser in der Musikge- schichte einzigartigen Sammlung gibt es viele, und sie sind so unter- schiedlich wie die Musiker, die sie geschaffen haben. Doch nur sehr wenigen Pianisten ist es gelungen, das Wohltemperierte Klavier derart überzeugend auf einem Steinway zu spielen. „Das WTK wurde für ein Tasteninstrument geschrieben“, stellt Dina Ugorskaja in einem Interview im Beiheft zu ihrer CD-Box fest, „doch es ist viel mehr als Musik für ein Instrument. Es klingt paradox, aber in einem übergeordneten Sinne ist es egal, auf welchem Instrument das WTK gespielt wird. (..) Andererseits – und das ist das Paradox – habe ich mich für den modernen Flügel entschieden: er bietet eine schier uner- schöpfliche Fülle klanglicher Möglichkeiten, an der Farbe, der Dynamik und der Artikulation zu arbeiten. Es geht um Kantabilität, die Kunst, die Mehrstimmigkeit auf dem Klavier wie in einer Motette zu realisieren: alle Stimmen müssen gesungen bzw. gesprochen werden.“
Dina Ugorskaja hat sich für das „WTK“ viel Zeit genommmen. Die Auf- nahmen von Band I entstanden im April und Mai 2015, Band II hat die Pianistin im Oktober und November 2015 eingespielt, im Studio 2 des Bayerischen Rundfunks. Und man muss sagen, nicht nur die Pianistin, sondern auch das Team um Tonmeister Jörg Moser hat dabei Großes geleistet. Technisch und klanglich ist die Aufnahme brillant – musikalisch ist sie ein ganz großer Wurf.
Dabei gehört das Wohltemperierte Klavier nicht zum täglichen Arbeits- programm von Dina Ugorskaja: „Die Kontinuität hat sich erst in dem Jahr eingestellt, als ich die Aufnahme vorbereitet habe. Jeden Morgen beim Aufwachen dachte ich, dass mir heute wieder ein ganzer Tag Bach beschert sein wird – in der immer gleichen Form, die nur scheinbar gleich ist, in Gestalt von Präludium und Fuge – und dass ich mich dieser Tätigkeit ganz und ausschließlich widmen darf“, berichtet die Pianistin. „Es war eine Arbeit, die mich sehr geerdet und strukturiert hat und zugleich den Blick gen Himmel lenkte. Der Begriff der Unendlichkeit ist mir nie zuvor so evident gewesen wie während der Beschäftigung mit dem WTK. Die Intensität trug mich – das war etwas anderes, als ein Morgen- gebet zu verrichten und danach zur Tagesordnung überzugehen.“
Diese Intensität prägt auch die Aufnahmen. Ugorskaja kennt die Theorien und die Praxis der historischen Aufführungspraxis, aber sie lässt all das hinter sich: „Wenn ich ein Werk einstudiere, bin ich mit den Noten allein. Ich mache viel ohne Instrument; analysiere, finde ein Gerüst, die Struk- tur. Erst erklingt das Stück im Kopf, bevor ich mich dann am Klavier herantaste.“ Die Interpretation, zu der sie schließlich findet, ist ihre ganz persönliche – und sie überzeugt, weil sie nicht nur subjektiv, sondern auch überaus solide gearbeitet und letzten Endes in sich stimmig ist. „Was uns berührt und unsere Liebe zu dieser Musik weckt, ist ja nicht die Form allein, die Riesenpalette polyphoner Kunststücke, sondern die Tief- gründigkeit und Vielschichtigkeit des musikalischen Ausdrucks“, erklärt Dina Ugorskaja. „Beide Aspekte – die strenge logische Form und die musikalische Botschaft – sind in den Präludien und Fugen auf das Innigste miteinander verschmolzen. Jedes Stück hat seine Geschichte, seine Dramaturgie.“ Und genau das macht die Pianistin hörbar – man möchte diese Musik wieder und wieder starten, um kein Detail zu verpassen. Für mich ganz klar eine der besten Bach-Einspielungen des Jahres.
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