Das Luther-Jahr hat soeben begon- nen – und schon sind die ersten CD auf dem Markt, die den Reformator und sein Erbe feiern. Ein sehr gelungenes Projekt präsentiert nun das Label Deutsche Harmonia Mundi: Christoph Spering hat das Reformationsjubiläum zum Anlass genommen, die dreizehn „Luther-Kantaten“ von Johann Sebastian Bach neu einzuspielen.
Das ist wahrlich eine würdige Form des Gedenkens: „Ich wünsche gewiß von Herzen, daß Jedermann die göttliche und vortreffliche Gabe, die Musik, sich einloben und angepriesen sein ließe. Wiewohl ich werde von der Menge und Größe ihrer guten Eigenschaften gleichsam überschüttet, daß ich weder Anfang, noch Ende, noch ein Maß meiner Rede finden kann; und bei der großen Menge des Lobes muß ich doch ein nüchterner und armseliger Lobredner derselben sein“, verkündete einst der Reforma- tor. Martin Luther, der im Jahre 1517 seine berühmten Thesen in Wittenberg an die Kirchentüre genagelt haben soll, mit den bekannten Folgen, hat nicht nur die Bibel übersetzt, viele theologische Streitschriften verfasst und unzählige Briefe in alle Himmelsrichtungen geschickt.
Luther wollte eine singende Kirche – und er hat daher Lieder für das Kirchenvolk geschrieben. Mitunter hat er einfach bekannten Melodien einen neuen Text gedichtet, der den Glauben, wie Luther ihn verstanden haben wollte, auf den Punkt bringt. Manchmal hat er aber auch ein komplettes Lied geschrieben; wie das bekannte Vom Himmel hoch da komm ich her. So sind mehr als 30 deutsche Kirchenlieder entstanden, die in Gesangbüchern abgedruckt und verbreitet wurden; etliche davon werden noch heute im Gottesdienst gesungen. Dazu trugen auch die Kirchenmusi- ker um „Urkantor“ Johann Walter sowie der nachfolgenden Generationen bei. Die Kantoren der evangelischen Kirche schätzten Luthers Lieder hoch und hielten sie über die Jahrhunderte in Chor- und Orgelsätzen, Bearbei- tungen und in Neuvertonungen präsent.
In dieser Tradition stand auch die Familie Bach. Mit Luthers Chorälen, wie Nun komm, der Heiden Heiland, Ein feste Burg ist unser Gott oder Mit Fried und Freud ich fahr dahin ist Johann Sebastian Bach in Thüringen aufgewachsen. Sie gehörten ebenso selbstverständlich zu den Grundlagen seines musikalischen Schaffens wie etwa die Regeln des Kontrapunktes.
Spering hat aus den mehr als 200 überlieferten Bach-Kantaten jene herausgesucht, die sich durch einen besonders engen Bezug zu Luthers Kirchenliedern auszeichnen. Einige davon hat Bach bereits in Mühlhausen und in Weimar komponiert; die meisten aber entstammen dem sogenann- ten Choralkantaten-Jahrgang, den Bach 1724/25 in seinem zweiten Leipziger Amtsjahr geschaffen hat. Mit einer Besetzung aus überwiegend jungen Vokalsolisten sowie seinen beiden Ensembles Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester hat Spering Bachs Kantaten erkundet.
Dafür hat er die Quellen sorgsam studiert, und dann für jedes einzelne Werk eine individuelle Interpretation erarbeitet. Im Beiheft wird kurz und nachvollziehbar erläutert, aus welchen Gründen Spering jeweils seine Entscheidungen getroffen hat. Oberster Grundsatz war, den Verstand zu gebrauchen – und Dogmen zu meiden. So besetzt Spering in den beiden früheren Kantaten Christ lag in Todes Banden (BWV 4; 1707) und Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61; 1714) sämtliche Stimmen solistisch. Ansonsten orientiert sich die Besetzung in Chor und Orchester bei den Leipziger Kantaten an den Vorschlägen, die Bach in seiner Denkschrift „Kurtzer, iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music“ von 1730 äußerte. Darin wünschte er sich für die Figuralmusik neben den Concertisten noch acht Ripienisten, also zusätzliche Sänger, die in den Chören die Solisten unterstützen.
Die Choräle sieht Christoph Spering als wesentliche Stücke, die die Gemeinde in die Kantaten mit einbeziehen. Das Publikum soll über den Text nachdenken – und deshalb wählt der Dirigent bewusst gemächliche Tempi, und lang ausgehaltene Fermaten als Ruhepunkte. Auch bei den Secco-Rezitativen setzt Spering ganz eigene Akzente; sie werden in einigen Kantaten nicht mit kurz angestoßenem und verklingendem Basston begleitet, sondern mit einem bleibenden, solide im Raum stehenden Generalbass-Fundament untersetzt – und zwar mit einem satten 16-Fuß-Fundament. Das klingt zunächst etwas altmodisch, aber es hat seine Reize, und ist durchaus eine Überlegung wert.
Auch die Orgel rückt Christoph Spering wesentlich stärker in den Mittel- punkt, als man das üblicherweise gewohnt ist: „Johann Sebastian Bach war nicht nur von seiner Ausbildung, sondern auch von seinem Selbst- verständnis her in erster Linie Organist“, begründet der Dirigent seine Entscheidung im Beiheft. Dazu passt eine kleine Truhenorgel, wie sie in der historischen Aufführungspraxis derzeit üblich ist, in der Tat schlecht. Und so darf bei dieser Einspielung die Orgel deutlich hervortreten. Sie bleibt trotzdem Continuo – aber ein markantes, interessantes. Das verwendete Instrument, über das man leider nichts erfährt, entspreche in seinen Dimensionen ungefähr dem Brustwerk des Leipziger Exemplars zu Bachs Zeiten, so Spering. Die Orgel wird mitunter durch ein Cembalo ergänzt; allerdings geschieht dies ebenfalls nicht durchgängig, sondern wohlüberlegt in ausgewählten Kantaten, was den Klang sehr reizvoll auffächert.
Die Vier-CD-Box hält also musikalisch so manche Überraschung bereit. Ein würdiger Auftakt zum Luther-Jahr – und ein spannender Beitrag zur Weiterentwicklung einer historischen Aufführungspraxis, die leider derzeit gelegentlich aus dem Blick verliert, dass Regeln kein Selbstzweck sind. Wenn aber ein Konzept zur reinen Lehre erstarrt, dann kann Provokation nur voranbringen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen