Grigory Sokolov ist als Pianist noch immer eine Klasse für sich. Seit vielen Jahren spielt der Musiker ausschließlich Solo-Recitals. Er tritt nur in Mitteleuropa auf, und er meidet Medienrummel ebenso wie Marketingstrategen. Er gibt keine Interviews, und er stellt seine Programme so zusammen, wie er es für richtig hält.
Viele Jahre lang hat Sokolov keinerlei Aufnahmen erlaubt. Es ist ein großer Gewinn, dass er nun zumindest ausgewählte Live-Mitschnitte für eine Veröffentlichung freigibt.
Denn seine Konzentration auf die Musik, seine brillante Technik und seine bewundernswerte Autonomie ermöglichen ihm Interpretationen von enormer Tiefe und Klarheit. Sokolov musiziert mit höchster Präzision; seine Artikulation ist atemberaubend, Nuancen- und Farbenreichtum seines Spiels sind faszinierend. Das ist Klavierkunst auf allerhöchstem Niveau, wie aus einer anderen Welt.
Diese Box enthält die Sonate in C-Dur op. 2 Nr. 3 sowie die Bagatellen op. 119 von Ludwig van Beethoven, sowie die Klavierstücke op. 118 und 119 von Johannes Brahms und sieben wunderbare Zugaben. Diese wählt Sokolov stets mit derselben Sorgfalt aus wie die „großen“ Stücke.
Zu hören sind in diesem Falle das Impromptu in As-Dur D 935/2 von Franz Schubert, Les Sauvages von Jean-Philippe Rameau, das Intermezzo in b-Moll op. 117/2 von Johannes Brahms, Le Rappel des Óiseaux, ebenfalls von Rameau, das Prelude in gis-Moll op. 32/12 von Sergej Rachmaninoff, Schuberts Allegretto in c-Moll D 915 und Des pas sur la neige aus den Préludes von Claude Debussy. Als Zugabe gibt es außerdem eine DVD, mit Musik von Wolfgang Amadeus Mozart.
Einen Hammerflügel-Hurrikan entfesselt Slobodan Jovanović auf diesem Album aus dem Hause K&K, bei dem es sich ausnahmsweise einmal nicht um einen Konzertmitschnitt handelt. Der Pianist, der sich auf historische Tasteninstrumente spezialisiert hat, musiziert auf einem Fortepiano aus der Werkstatt von Susanne Merzdorf, angefertigt nach einem Vorbild von Anton Walter aus dem Jahre 1782.
In diese Einspielung startet er mit der Sonata Nr. 4 in A-Dur Wq 55,4 von Carl Philipp Emanuel Bach (1714 bis 1788). Sie stammt aus der ersten Sammlung „Für Kenner und Liebhaber“, und führt direkt hinein in ein Jahrhundert, in dem sich Komponisten oftmals mit Dienstverhältnissen arrangierten, und in dem Musik häufig in erster Linie eine Gebrauchsfunktion hatte.
So wirkte Carl Philipp Emanuel Bach viele Jahre als Cembalist Friedrichs des Großen. Wie wenig ihn allerdings mit den musikalischen Ideen seines flötenspielenden Dienstherren verbindet, das zeigt auch das zweite Werk, das Jovanović auf dieser CD erklingen lässt. Die Fantasie in fis-Moll Wq 67 „C.P.E. Bachs Empfindungen“ ist ein ebenso unerhörtes wie ungestümes Stück, einzigartig, ebenso wild wie ausdrucksvoll.
Ein ganz ähnliches Temperament offenbart sein jüngerer Bruder Wilhelm Friedemann Bach – aber seine Fantasie in a-Moll, die Jovanović für diese Einspielung ausgewählt hat, bleibt vergleichsweise zahm. Die zwölf Polonaisen hingegen sind alles andere als harmlose Salonstücke; kein Wunder, dass Zelter sie seinerzeit „mühsam“ fand. Bei den Polonaisen in e-Moll und f-Moll demonstriert Bach, dass er Empfindsamkeit durchaus kann. Doch interessanter sind die Polonaisen Es-Dur und F-Dur – sie weisen weit voraus in die Romantik. Wilhelm Friedemann Bach überrascht immer wieder neu. Dieser Musiker, der es in keiner Anstellung lange aushielt, muss ein unglaublich versierter Pianist gewesen sein – und ein musikalischer Visionär. Seine Harmonik nimmt mitunter bereits das 19. Jahrhundert vorweg. Faszinierend.
Eingebettet in seine Werke, spielt Slobodan Jovanović ein eigenes Stück. Iluzija, Illusion, ist auf dem Konzertflügel entstanden. Es profitiert aber erheblich vom farbenreichen, differenzierten Klang des Hammerflügels; Jovanović bringt es auf dieser CD in einen spannungsreichen Dialog mit den Kompositionen der beiden Bach-Söhne.
Liebevolle Klänge präsentiert das Duo Gioco di Salterio auf diesem Album. Mit ihrer Musikauswahl, die weit in die Vergangenheit reicht, erinnern Birgit Stolzenburg und Hans Brüderl zugleich an Klänge aus ferner Zeit: In der Renaissance wurden in Europa viele Musikinstrumente gespielt, die in späteren Jahrhunderten an Bedeutung verloren haben, und teilweise sogar in Vergessenheit geraten sind.
Lauten und Theorben sind mittlerweile wieder zu hören. Aber das Hackbrett und seine Verwandten erklingen, außerhalb der Brauchtumspflege, eher selten. Dieses Saiteninstrument wird mit kleinen Hämmerchen angeschlagen. Birgit Stolzenburg lässt hier Salterio, Dulce Melos, Dulcimer und Kontrabass-Hackbrett erklingen. Hans Brüderl spielt Vihuela, Renaissancegitarre, Renaissancelaute und Theorbe, und gemeinsam zeigen die beiden Musiker, welche Vielfalt an Klangmöglichkeiten dieses Instrumentarium ermöglicht. Dafür hat das Duo Gioco di Salterio Werke vom 14. bis zum 18. Jahrhundert ausgewählt. Berückend!
Klaviersonaten von Joseph Haydn (1732 bis 1809) widmet sich Brigitte Meyer auf dieser Genuin-CD. Die Schweizer Pianistin entstammt wie Friedrich Gulda und Martha Argerich der Wiener Talentschmiede des großen Lehrers Bruno Seidlhofer. Für diese Einspielung wählte sie vier sehr unterschiedliche Klaviersonaten aus dem umfangreichen Gesamtwerk Haydns aus.
Die D-Dur-Sonate Hob. XVI:24 orientiert sich am Vorbild Carl Philipp Emanuel Bachs – aber Haydn führt dieses in einzigartiger, impulsiver Weise weiter. „Ich spüre hier immense Lebensfreude“, so Meyer, „und um die auszudrücken, muss man über die Technik verfügen, um beispielsweise auch schnellere Tempi wählen zu können. Für mich fordert die Sonate in D-Dur viel Phantasie vom Interpreten.“
Die Sonate in As-Dur Hob XVI:46 hingegen sei weit detaillierter ausgearbeitet: „Haydn schafft hier eine eigene Sprache, mit fließender Harmonie und großer rhythmischer Lebendigkeit“, schreibt die Pianistin im Beiheft. „Seine kühne und oft überraschende Art mit Harmonien umzugehen, ist für den Interpreten aufschlussreich und äußerst inspirierend.“
Die beiden Sonaten in C-Dur und Es-Dur Hob. XVI:50 und 52 komponierte Haydn anlässlich seiner Reise nach London 1794/95. Es sind virtuose Werke, bestimmt für den Vortrag auf englischen Instrumenten, kühn und modern.
Brigitte Meyer findet für jedes der vier so verschiedenen Werke einen eigenen Ausdruck. Auf dem modernen Fazioli-Flügel musiziert sie fein nuanciert, sehr elegant, dabei kraftvoll und mit Esprit. Hinreißend musiziert, ich habe jeden Ton genossen. Das ist ein sehr interessanter Beitrag zum Beethoven-Jubiläumsjahr.
Der Residenzstadt Dresden war Heinrich Schütz (1585 bis 1672) eng verbunden. Und es waren auch Dresdner, die das Schaffen des langjährigen kursächsischen Hofkapellmeisters aus Archiven wieder zurück in das Bewusstsein der musikliebenden Öffentlichkeit gerückt haben. Heinrich Schütz, ein Schüler von Giovanni Gabrieli, gilt als „Vater der modernen deutschen Musik“. Ebenso wie Scheidt und Schein – deshalb bekannt als „die drei großen Sch“ der miktteldeutschen Musikgeschichte – integrierte er Innovationen aus Italien in die deutsche Musiktradition. Seine Kompositionen begeistern noch heute, denn Schütz ist Meister darin, Texte mit dem Medium Musik auszudeuten.
Die Neue Schütz-Ausgabe begann in den 50er Jahren, die Werke des Komponisten aus quellenkritischer Perspektive wieder zugänglich zu machen. In den 60er Jahren entstand zudem eine ebenso exzellente wie umfangreiche Einspielung dieser eindringlichen und zumeist geistlichen Werke, getragen vom Dresdner Kreuzchor unter Leitung des Kreuzkantors Rudolf Mauersberger und seines Nachfolgers Martin Fläming. Das wird kaum ein Zufall gewesen sein; die Kruzianer dürfte inmitten des real existierenden Sozialismus besonders der Bekenntnischarakter von Schütz‘ Musik inspiriert haben. Beteiligt an diesem Projekt war auch die Capella Fidicinia Leipzig, die auf historischen Instrumenten musizierte.
Für damalige Verhältnisse war das außergewöhnlich. Veröffentlich wurde die Einspielung einst bei dem DDR-Label Eterna – man staunt noch heute darüber, wie unter dem Etikett der Pflege des kulturellen Erbes im Arbeiter- und Bauernstaat eine solche Edition möglich war.
Dann war es der Musikhistoriker Wolfgang Steude, der sich unermüdlich dafür eingesetzt hat, die Musik des Dresdner Hofes aus dem Vergessen wieder auf die Bühnen zu holen. Noch heute engagieren sich erfreulich viele Ensembles in der Elbestadt dafür. Steude baute das Dresdner Heinrich-Schütz-Archiv auf, und er war Mitherausgeber des Schütz-Jahrbuches.
In jüngster Vergangenheit hat sich nun Hans-Christoph Rademann Schütz‘ Kompositionen zugewandt. Mit Blick auf die Veröffentlichung der Stuttgarter Schütz-Ausgabe, die beim Carus-Verlag erscheint und aufführungspraktisch orientiert ist, hat der renommierte Chordirigent mit dem Dresdner Kammerchor sowie einem handverlesenen Kreis von Gesangs- und Instrumentalsolisten seine Schütz-Gesamteinspielung gestartet. Im Juni 2019 wurde diese mit der 20. und letzten Folge abgeschlossen.
Mit diesem Projekt verwirklicht Rademann offensichtlich ein Herzensanliegen: „Als ich im Jahre 1975 als Sängerknabe im Dresdner Kreuzchor Heinrich Schütz erstmals intensiv kennengelernt habe, hatte sich mir noch längst nicht erschlossen, welch ungeheurer Schatz diese Musik ist“, schreibt er im finalen Begleitheft. „Nun, nach Abschluss der Gesamtaufnahme mit dem Dresdner Kammerchor, unseren wunderbaren Solistinnen und Solisten sowie den Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, bleiben ein ehrfürchtiges Staunen und eine große Dankbarkeit. Alle Mitwirkenden sind ungemein erfüllt und bereichert durch diese Meisterwerke.“
Schütz‘ Musik ist einzigartig. Niemand sonst hat Klang und Wort so eng miteinander verbunden: „Musik und Sprache erzeugen bei Schütz eine Welt der Bilder, die nicht nur unser Verstand aufnehmen kann“, formuliert Rademann. „So entsteht die Empfindung einer Klarheit, die man auch als eine Form der Wahrheit oder der Erkenntnis bezeichnen kann.“
Nach den Madrigalen und Hochzeitsmusiken, die in Folge 19 zu hören waren, versammelt die abschließende 20. Folge unter dem Titel „Psalmen und Friedensmusiken“ einerseits zum Teil großangelegte Gelegenheitskompositionen sowie Auftragswerke außerhalb des Dresdner Hofs. Andererseits erklingt sehr Persönliches wie beispielsweise der umfangreiche Klagegesang, mit dem Schütz den Tod seiner Frau Anna Magdalena betrauert. Wenn Georg Poplutz dieses Lied singt, meint man, den Komponisten selbst zu hören.
Besonders erwähnt sei an dieser Stelle zudem die Einspielung des 119. Psalms, in Schütz‘ Todesjahr 1672 veröffentlicht, und das letzte Werk des Komponisten. Dieser sogenannte Schwanengesang, ist Schütz‘ musikalisches Testament. Auch bei diesem Werk ist Rademann eine Interpretation gelungen, die das enge Verhältnis zwischen Wort und Musik deutlich werden lässt. „Die Werke von Heinrich Schütz können uns das geben, was wir gerade in der heutigen Zeit so dringend benötigen: Konzentration, Fokussierung und Ruhe in uns selbst. Sie kann uns die Bibel neu nahebringen und verlebendigt das Wort“, so das Fazit von Hans-Christoph Rademann. „Ich wünsche Ihnen, den Hörerinnen und Hörern unserer Gesamtaufnahme, dass Sie dies für sich entdecken können.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Chapeau!