Sonntag, 6. September 2020

Schütz: Schwanengesang (Carus)

Der Residenzstadt Dresden war Heinrich Schütz (1585 bis 1672) eng verbunden. Und es waren auch Dresdner, die das Schaffen des langjährigen kursächsischen Hofkapellmeisters aus Archiven wieder zurück in das Bewusstsein der musikliebenden Öffentlichkeit gerückt haben. Heinrich Schütz, ein Schüler von Giovanni Gabrieli, gilt als „Vater der modernen deutschen Musik“. Ebenso wie Scheidt und Schein – deshalb bekannt als „die drei großen Sch“ der miktteldeutschen Musikgeschichte – integrierte er Innovationen aus Italien in die deutsche Musiktradition. Seine Kompositionen begeistern noch heute, denn Schütz ist Meister darin, Texte mit dem Medium Musik auszudeuten. 
Die Neue Schütz-Ausgabe begann in den 50er Jahren, die Werke des Komponisten aus quellenkritischer Perspektive wieder zugänglich zu machen. In den 60er Jahren entstand zudem eine ebenso exzellente wie umfangreiche Einspielung dieser eindringlichen und zumeist geistlichen Werke, getragen vom Dresdner Kreuzchor unter Leitung des Kreuzkantors Rudolf Mauersberger und seines Nachfolgers Martin Fläming. Das wird kaum ein Zufall gewesen sein; die Kruzianer dürfte inmitten des real existierenden Sozialismus besonders der Bekenntnischarakter von Schütz‘ Musik inspiriert haben. Beteiligt an diesem Projekt war auch die Capella Fidicinia Leipzig, die auf historischen Instrumenten musizierte. 
Für damalige Verhältnisse war das außergewöhnlich. Veröffentlich wurde die Einspielung einst bei dem DDR-Label Eterna – man staunt noch heute darüber, wie unter dem Etikett der Pflege des kulturellen Erbes im Arbeiter- und Bauernstaat eine solche Edition möglich war. 
Dann war es der Musikhistoriker Wolfgang Steude, der sich unermüdlich dafür eingesetzt hat, die Musik des Dresdner Hofes aus dem Vergessen wieder auf die Bühnen zu holen. Noch heute engagieren sich erfreulich viele Ensembles in der Elbestadt dafür. Steude baute das Dresdner Heinrich-Schütz-Archiv auf, und er war Mitherausgeber des Schütz-Jahrbuches. 
In jüngster Vergangenheit hat sich nun Hans-Christoph Rademann Schütz‘ Kompositionen zugewandt. Mit Blick auf die Veröffentlichung der Stuttgarter Schütz-Ausgabe, die beim Carus-Verlag erscheint und aufführungspraktisch orientiert ist, hat der renommierte Chordirigent mit dem Dresdner Kammerchor sowie einem handverlesenen Kreis von Gesangs- und Instrumentalsolisten seine Schütz-Gesamteinspielung gestartet. Im Juni 2019 wurde diese mit der 20. und letzten Folge abgeschlossen. 
Mit diesem Projekt verwirklicht Rademann offensichtlich ein Herzensanliegen: „Als ich im Jahre 1975 als Sängerknabe im Dresdner Kreuzchor Heinrich Schütz erstmals intensiv kennengelernt habe, hatte sich mir noch längst nicht erschlossen, welch ungeheurer Schatz diese Musik ist“, schreibt er im finalen Begleitheft. „Nun, nach Abschluss der Gesamtaufnahme mit dem Dresdner Kammerchor, unseren wunderbaren Solistinnen und Solisten sowie den Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, bleiben ein ehrfürchtiges Staunen und eine große Dankbarkeit. Alle Mitwirkenden sind ungemein erfüllt und bereichert durch diese Meisterwerke.“ 
Schütz‘ Musik ist einzigartig. Niemand sonst hat Klang und Wort so eng miteinander verbunden: „Musik und Sprache erzeugen bei Schütz eine Welt der Bilder, die nicht nur unser Verstand aufnehmen kann“, formuliert Rademann. „So entsteht die Empfindung einer Klarheit, die man auch als eine Form der Wahrheit oder der Erkenntnis bezeichnen kann.“ 
Nach den Madrigalen und Hochzeitsmusiken, die in Folge 19 zu hören waren, versammelt die abschließende 20. Folge unter dem Titel „Psalmen und Friedensmusiken“ einerseits zum Teil großangelegte Gelegenheitskompositionen sowie Auftragswerke außerhalb des Dresdner Hofs. Andererseits erklingt sehr Persönliches wie beispielsweise der umfangreiche Klagegesang, mit dem Schütz den Tod seiner Frau Anna Magdalena betrauert. Wenn Georg Poplutz dieses Lied singt, meint man, den Komponisten selbst zu hören. 
Besonders erwähnt sei an dieser Stelle zudem die Einspielung des 119. Psalms, in Schütz‘ Todesjahr 1672 veröffentlicht, und das letzte Werk des Komponisten. Dieser sogenannte Schwanengesang, ist Schütz‘ musikalisches Testament. Auch bei diesem Werk ist Rademann eine Interpretation gelungen, die das enge Verhältnis zwischen Wort und Musik deutlich werden lässt. „Die Werke von Heinrich Schütz können uns das geben, was wir gerade in der heutigen Zeit so dringend benötigen: Konzentration, Fokussierung und Ruhe in uns selbst. Sie kann uns die Bibel neu nahebringen und verlebendigt das Wort“, so das Fazit von Hans-Christoph Rademann. „Ich wünsche Ihnen, den Hörerinnen und Hörern unserer Gesamtaufnahme, dass Sie dies für sich entdecken können.“  Dem ist nichts hinzuzufügen. Chapeau! 

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