Montag, 31. Januar 2022

Busoni: The 6 Sonatas (Hänssler Classics)


 Mit dieser CD setzt sich Victor Nicoara dafür ein, dass das Werk von Ferruccio Busoni (1866 bis 1924) nicht in Vergessenheit gerät. Deshalb hat der Pianist für sein Solo-Debüt die sechs Sonatinen eingespielt, die Busoni zwischen 1910 und 1920 komponierte. Komplettiert wird dieses anspruchsvolle Programm durch Nuit de Noel, drei Albumblätter sowie das Fragment einer Sonatina quasi Sonata aus dem Jahre 1914. Dies wiederum inspirierte Nicoara zu seiner Quasi Sonatina, welche er zum Abschluss präsentiert. 

„Busoni was very fond of architecture and, upon following both evidence and intuition, I believe he thought of music in a spatial sense“, schreibt der rumänische Pianist, der am Royal College of Music in London Klavier und auch Komposition studiert hat und jetzt in Berlin lebt. „Thus, it is my wish to take the listener on a journey through the sound chambers of Busoni’s mind. With some patience, what at first seems opaque, a puzzling labyrinth, will later reveal itself to be an edifice full of both great orderly refinement and mysterious corners.“ 

Ferruccio Busoni wuchs in Empoli, westlich von Florenz, auf. Die Eltern, eine Pianistin und ein Klarinettenvirtuose, begannen schon früh mit seiner musikalischen Ausbildung. Als Busoni sieben Jahre alt war, gab er in Triest seine erstes Konzert am Klavier, und er komponierte seine ersten Klavierstücke. Zwei Jahre später spielte das Wunderkind vor Publikum bereits Mozarts c-Moll-Konzert KV 491. 

Busoni studierte am Wiener Konservatorium und unterrichtete in Leipzig, Helsinki, Moskau und Boston. 1894 ging er nach Berlin. Während des Weltkrieges lebte der Musiker in Zürich. 1920 kehrte Busoni nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem viel zu frühen Tod eine Meisterklasse an der Berliner Akademie der Künste unterrichtete. Er prägte zahlreiche Musikerpersönlichkeiten, wie Philipp Raphael Jarnach, Edgar Varèse, Kurt Weill oder Leo Kestenberg. 

Das enorme musikalische Spektrum, das Busoni vertrat, machen die Sonatinen exemplarisch sichtbar. Die Sonatina super Carmen (1920) zeigt, wie Busoni romantische Virtuosentraditionen aufgriff. Die Komposition, die er zu Papier brachte, übertrifft an Vertracktheit wohl selbst Liszts wildeste Tastenfantasien. Doch stark geprägt hat Busoni vor allem seine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk von Johann Sebastian Bach. Als Meister des Kontrapunkts zeigt ihn die Sonatina brevis in Signo Joannis Sebastiani Magni (1918), die den Zuhörer aber auch an Reger denken lässt. 

Farbenrausch und Eleganz hingegen bietet die erste Sonatina (1910), die eher an impressionistische Klänge erinnert. Doch in all diesen Experimenten bleibt Busoni immer bei sich. Nicht nur als Dirigent und Musiktheoretiker setzte er sich für zeitgenössische Musik ein. Die Sonatinen wirken wie das Echo jener Überlegungen, die er seinerzeit in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ (1907/1916) erläutert hat. Man höre nur die Sonatina Seconda (1912) – harmonisch ein Wagnis, und rhythmisch hochkomplex. 

„To me, Busoni’s music is at once very intimate and very distant. It tries to guess at the unknowable far away and deep within, living at the limits of our spiritual perception in each direction“, schreibt Victor Nicoara im Beiheft. „It constantly hints at something, without revealing it directly. I tried to search for this quality in sound. The acoustik of the Meistersaal, coupled with the characterful old Steinway – once used by Wilhelm Kempff to record the complete Beethoven Sonatas – and with Sebastian Nattkemper’s magical sound engineering powers brought me to the closest approximation of what I had in mind.“ 

Der rumänische Pianist interpretiert Busonis Musik mit Noblesse, allerfeinster Klaviertechnik und spektakulärem musikalischen Gestaltungsvermögen. Diese Einspielung ist sehr beeindruckend, und mit seiner Quasi Sonatina setzt Victor Nicoara ein ebenso würdiges wie poetisches Finale. Chapeau! 

Mittwoch, 26. Januar 2022

In Search Of (Avi-Music)


Seit zehn Jahren sind die Pianisten Gülru Ensari und Herbert Schuch ein Paar - und gefunden haben sie sich nicht nur fürs Leben, sondern auch auf dem Konzertpodium. Zwar musizieren die beiden noch immer solistisch, und sind auch begehrte Kammermusikpartner. Doch als Duo haben sie bereits zwei erfolgreiche Alben zusammen eingespielt, „Go East“ und „Dialogues“. 

Dabei war schon zu erkennen, dass die Künstler höchst unterschiedliche Hintergründe und Erfahrungen mitbringen - was ihre Partnerschaft aber offensichtlich beflügelt. Die Geburt ihrer Tochter Kayra hat Gülrü Ensari und Herbert Schuch nun veranlasst, sich auf die Suche nach Kindheitserinnerungen zu begeben. 

„Wir hatten beide einen Plattenspieler zuhause“, meint Gülru Ensari – doch das war es dann offensichtlich auch schon fast mit dem Gemeinsamkeiten. Im Beiheft ist beschrieben, dass Herbert Schuch seine Kindheit in Ceauşescu-Rumänien verbracht hat und zunächst „im Grünen“ aufgewachsen ist. Er gehört zur Minderheit der Banater Schwaben, und seine Familie liebte ungarische Operettenmelodien. 

Gülru Ensari kam in Istanbul zur Welt – einer Metropole zwischen Orient und Okzident. Auch ihre Kindheit war erfüllt von Musik, klassischer westlicher Musik, denn ihre Mutter war Pianistin, und deshalb wuchs sie mit Brahms, Dvořák und Tschaikowski auf. 

Erinnern konnten sich beide an Pjotr Tschaikowskis Ballett Der Nussknacker, dass sie schon als Kinder geliebt haben. Es erklingt hier in einer Fassung für zwei Klaviere von Nicolas Economou. Außerdem haben die Pianisten ausgewählte Ungarische Tänze von Johannes Brahms mit Antonin Dvořáks Slawischen Tänzen kombiniert – wobei sie den Hörer trotz orchestraler Vielfarbigkeit mit präzise herausgearbeiteten musikalischen Strukturen beglücken. „Uns interessierte die Begegnung, der Dialog, das Zusammenbringen von Unterschieden“, erklärt Herbert Schuch. „So wie es sich auch in unserer persönlichen Geschichte zeigt.“ Und im Klavierspiel des Duos, das auch im beim gemeinsamen Musizieren darauf besteht, Individualität produktiv einzubringen. 

Die Aufnahme schließt mit dem Auftragswerk Sarmal („Spirale“) des türkischen Komponisten Oğuzhan Balcı. Gülru Ensaris Mutter hat den Geiger oft am Klavier begleitet. Später, als auch Gülru Klavier studierte, stand er ihr als Konzertmeister und Dirigent bei Orchesterkonzerten zur Seite. Sein Stück Sarmal entfaltet einen regelrechten Sog, wie ein Gedankenwirbel; man kann dabei meditieren oder aber der eigenen Kindheit nachsinnen. Aus starken Wurzeln erwächst Neues, wie diese CD zeigt. Überaus spannend!
 

Couperin: Werke für Cembalo (Tyxart)


 Tilman Skowroneck hat für Tyxart drei Cembalo-Suiten – Ordres – aus dem ersten und zweiten Buch der Pièces de Clavecin von François Couperin (1668 bis 1733) eingespielt. Vorangestellt hat er ihnen jeweils das zugehörige Prélude aus L'Art de Toucher le Clavecin. Der Cembalist beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der Musik des französischen Komponisten, der seinerzeit die Tänze häufig nutzte, um Ideen oder Persönlichkeiten mit musikalischen Mitteln zu charakterisieren. 

An seine erste Begegnung mit diesen Stücken kann sich Tilman Skowroneck noch heute erinnern: „Couperins Cembalomusik kam in den späten Sechzigerjahren in meine Welt, als meine Eltern die Aufnahme […] von Alan Curtis zu Weihnachten geschenkt bekamen. Meine Ohren waren an einige der einfacheren Stücke von Bachs Klavierbüchlein und an ein paar Anfängerstücke für Virginal gewöhnt, und Couperins Welt schien mir skurril und voll von geheimnisvollen Bildern.“ 

Mit dieser Aufnahme gelingt es Skowroneck, diese Faszination auch dem Hörer zu vermitteln. Er spielt dabei übrigens ein zweimanualiges Instrument, das sein Vater Martin Skowroneck 1981 nach französischen Vorbildern des 18. Jahrhunderts gebaut hat.  

Montag, 24. Januar 2022

Matthias Weckmann: Organ Music (MDG)


 Orgelmusik zum Sonntag! Erfreut hat mich gestern eine CD mit Orgelmusik von Matthias Weckmann, die Hilger Kespohl für das audiophile Label Musikproduktion Dabringhaus und Grimm eingespielt hat. Dies war zugleich die erste Aufnahme der Orgel von Arp Schnitger in der Kirche St. Pankratius zu Hamburg-Neuenfelde nach der denkmalgerechten Restaurierung. 

Über dieses kostbare Instrument und seine Geschichte ist in diesem Blog bereits an anderer Stelle ausführlich geschrieben worden. Nur soviel sei hier wiederholt: In dieser Kirche liegt Arp Schnitger begraben, und Hilger Kespohl pflegt das Erbe des Orgelbauers mit bewundernswertem Engagement. 

Matthias Weckmann (1616 bis 1674) war unter den großen Komponisten der Norddeutschen Orgelschule insofern eine Ausnahme, als er aus Thüringen stammte, und seine Ausbildung als Chorknabe an der Dresdner Hofkapelle erhielt. Die Dresdner Hofmusik war zu jener Zeit geprägt durch Heinrich Schütz und italienische Vorbilder. Die Norddeutsche Orgelschule lernte Weckmann kennen, als er 1633 mit einem Stipendium des Kurfürsten nach Hamburg kam, wo er an St. Petri bei Jacob Praetorius drei Jahre lang seine Ausbildung fortsetzen konnte (und natürlich auch von Heinrich Scheidemann, weiland Organist an St. Katharinen, lernte). Mehr über die Biographie des Musikers ist bei Interesse hier nachzulesen

1655 erhielt Weckmann nach einem glanzvollen Probespiel das Organistenamt an der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi. Dort erwarb er sich viel Ruhm, 1660 auch das Bürgerrecht, und nach seinem Tod wurde er unterhalb der Orgel begraben. In seinem Werk vereinte Weckmann all die musikalischen Einflüsse, die er erfahren hatte, in einer ganz eigenen persönlichen Art und Weise. 

An der Neuenfelder Kirche mit ihrem authentischen hochbarocken Orgelklang stellt Hilger Kespohl auf dieser CD wichtige Kompositionen Weckmanns vor. Er nutzt das schöne, anspruchsvolle Programm zugleich, um Klangmöglichkeiten der Arp-Schnitger-Orgel zu demonstrieren. Die Aufnahmen sind übrigens auch technisch vorzüglich; es ist eine besondere Stärke von Werner Dabringhaus, Reimund Grimm und Holger Schlegel, nicht nur den Orgelklang, sondern ebenso jeden Kirchenraum in seiner Akustik zu erfassen und zu vermitteln. Bravi!

Mittwoch, 12. Januar 2022

Haydn: L'isola disabitata (Pentatone)


 Nach der erfolgreichen Einspielung von Telemanns Oper Miriways wandte sich die Akademie für Alte Musik Berlin nunmehr Joseph Haydns L’isola disabitata zu. Der Titel dieser azione teatrale freilich führt in die Irre, denn die Insel ist keineswegs unbewohnt: Costanza lebt dort, mit ihrer jüngeren Schwester Silvia, und das seit 13 Jahren. Und sie leidet furchtbar darunter. 

Doch heute kehrt ihr Gatte Gernando zurück; er sucht gemeinsam mit seinem Freund Enrico nach seiner Frau. Und das Publikum erfährt, dass er seinerzeit am Strand von Piraten entführt worden ist, während die Damen schliefen. Und so findet das Opus nach einem Libretto von Pietro Metastasio, 1779 erstmals aufgeführt, also ein glückliches Ende. 

Mit Anett Fritsch, Sunhae Im, Krystian Adam und André Morsch sind die Gesangspartien opulent besetzt. Eine ebenso wichtige Rolle aber spielt für diese Oper das Orchester, dem der Komponist eine so anspruchsvolle Musik anvertraut hatte, dass er diese vor Drucklegung seiner Partitur sicherheitshalber stark einkürzte. Denn er entschied sich seinerzeit nicht nur, sämtliche Rezitative durch das Orchester begleiten zu lassen. Auch ansonsten haben die Musiker gut zu tun; glücklicherweise ist es bei dieser Einspielung gelungen, gestrichene Abschnitte wieder einzufügen. So kommen wir nun also auch in den Genuss der Ritornelle – und können Haydns schöne Musik erstmals wieder anhören wie weiland der Fürst, virtuos gespielt von der Akademie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von Bernhard Forck. 


Montag, 10. Januar 2022

Schubert: Die schöne Müllerin (Deutsche Grammophon)


 Eine berührende Einspielung von Franz Schuberts Die schöne Müllerin haben Andrè Schuen und Daniel Heide im vergangenen Jahr als Debütalbum bei dem Label Deutsche Grammophon veröffentlicht – und damit ist ihnen ein großer Wurf gelungen. Selten ist Schuberts Liederzyklus in einer derartigen Qualität zu hören. 

Der Südtiroler Bariton erweist sich einmal mehr als ein exzellenter Liedersänger. Er vermag all die widerstreitenden Emotionen des wandernden Müllerburschen im Gesang darzustellen: Lebensfreude und jugendlicher Überschwang, Verliebtheit, Sehnsucht und Hoffnung, Enttäuschung, dann nagende Eifersucht, Gram und Selbstmitleid, und schließlich der Ausweg, die Flucht in den Bach – das ist ziemlich viel Gefühl auf so knappem Raum, oftmals rapide wechselnd, innerhalb weniger Takte, und es ist eine Herausforderung, all diese Umschwünge musikalisch mit Präzision nachvollziehbar zu gestalten. 

Schuen gelingt dies stets überzeugend. Gemeinsam mit Heide findet er immer wieder den passenden Ausdruck. Jedes dieser berühmten Lieder wirkt bei dieser Einspielung stimmig und ganz natürlich. 

Das ist große Kunst, zumal neben Text und Melodie in Schuberts Liedern immer auch der Klavierpart eine wichtige Rolle spielt. Wohl dem Sänger, der ein solches Tastenwunder an seiner Seite hat wie Daniel Heide. Sein Klavierspiel setzt Akzente, spitzt dramatisch zu, kommentiert und trägt den Part des Sängers. Es ist deutlich zu spüren, dass der Bariton und der Pianist seit vielen Jahren eng zusammenarbeiten: „Allein wenn André Luft holt, weiß ich schon, wann der nächste Ton kommen und wie er klingen wird“, sagt Daniel Heide. Diese Vertrautheit ist es, die einen derart fein austarierten Dialog zwischen Gesang und Klavier erst ermöglicht. Das macht auch dieses Album zum Ereignis. Bravi! 


Sonntag, 9. Januar 2022

À sa guitare (Erato)


 Einen Weg vom Barock bis in die Gegenwart beschreiten Countertenor Philippe Jaroussky und Gitarrist Thibaut Garcia mit ihrem ersten gemeinsamen Album. Der Sänger und der Instrumentalist überschreiten nicht nur Epochen- und Landes-, sondern auch Genregrenzen. Dabei haben sie sich gegenseitig vorangetrieben und inspiriert. 

So hat jeder von ihnen Zugang zu Musik gefunden, an die er ohne den anderen wohl nicht herangegangen wäre: „Chacun a influencé l’autre“, berichtet beispielsweise Garcia im Beiheft, „si j’ai amené Philippe vers le répertoire de John Dowland que j’aime tant, je ne croyais pas d’emblée au Nocturne de Fauré. Il a instisté jusqu’à ce que je m’aperçoive que ça fonctionnait. À l’inverse, c’est moi qui l’ai convaincu d’enregistrer une pièce plus moderne et populaire qui m’est très chère: L’Alfonsina… Et je m’en réjouis!“ 

Das Album spannt daher einen Bogen von Rossini bis zu Barbara, von Mozart bis Britten, und von Poulencs Sarabande bis zu Rodriguez‘ La cumparsita. Absoluter Höhepunkt aber ist Schuberts Erlkönig – wohlüberlegt gestaltet von Philippe Jaroussky, und atemberaubend begleitet durch Thibaut Garcia. Hier zeigt sich ganz besonders, dass die beiden Musiker phantastisch miteinander arbeiten können. Grandios! 

Jaroussky findet für jedes einzelne Lied individuell einen passenden stimmlichen Ausdruck, und sein Umgang mit dem Text ist immer wieder faszinierend. Gitarrist Garcia aber ist ebenfalls ein Meister seines Faches. Gemeinsam haben die beiden mit hohem Aufwand und viel Herz ein Album eingespielt, das vom ersten bis zum letzten Ton begeistert. Unbedingt anhören, diese CD ist wirklich ein Erlebnis. 


Mozart: Serenades (Hänssler Classic)


 Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadeus Mozart (1756 bis 1791) – nunmehr eingespielt von den Berliner Barock Solisten. Gibt es neue Erkenntnisse, oder hatte das renommierte Ensemble einfach Lust darauf, das zu spielen, was alle spielen? 

„Es ist zwar längst alles gesagt, nur noch nicht von Jedem“, ätzt der Leiter des Ensembles, Reinhard Goebel, in seinem obligatorischen Essay im Beiheft über die Gebräuche der Klassikszene. Das gilt freilich nicht nur für all die Beethoven-Zyklen und Vivaldi-„Vier Jahreszeiten“, sondern auch für all die anderen musikalischen Dauerbrenner aus früheren Jahrhunderten. 

Dazu gehören selbstverständlich auch Mozarts Serenaden. Wie also interpretiert man solche Werke? Goebel rät zum Blick in die Noten – und zwar möglichst in die Original-Quellen, denn Editionen ist nicht zu trauen. Sein Motto: „Wann immer sich der durchschnittliche Musikwissenschaftler zu Themen der Praxis äußert, so ist höchste Vorsicht geboten.“ 

Was dies ganz konkret bringt, das zeigt eindrucksvoll dieses CD-Projekt. Goebel hat wirklich alles hinterfragt, und siehe da! schon in Mozarts eigenhändigem Werkverzeichnis steht geschrieben: „Eine kleine Nacht Musick, bestehend in einem Allegro, Menuett und Trio. Romance, Menuett und Trio, und Finale. – 2 Violini, Viola e Baßi.“ Also keineswegs ein Streichquartett in vier Sätzen. 

Für das verschwundene Menuett, aber mehr noch für Besetzung und Tempi hat Goebel Lösungen gefunden, die überzeugen. Das Programm wird komplettiert durch Adagio und Fuge c-Moll KV 426/546 sowie ein Streicherarrangement von KV 594 (darüber freilich schweigt sich Goebel in seinem ansonsten so beredten Kommentar aus) und die Serenata Notturna KV 239, ein selten gespieltes Opus für Streicher und Pauken. 

Damit bietet die CD den gesamten Bestand an Mozarts Original-Kompositionen für chorisch, also mehrfach besetzte Streicher. Musiziert wird exquisit, fein austariert, ja, mitunter beinahe schon ein wenig manieriert. Manch Streichquartett träumt davon, so aus einem Atem zu musizieren wie die Berliner Barock Solisten. Das hat Klasse. 

Samstag, 8. Januar 2022

Anton Diabelli: Works for Flute and Guitar (MDG)


 Anton Diabelli (1781 bis 1858) ist durch Beethovens Diabelli-Variationen vielen Musikfreunden zumindest dem Namen nach bekannt. Doch der umtriebige Verleger, der es immerhin bis zum k.u.k. Hofmusikalienhändler brachte, war auch ein begnadeter Arrangeur und Komponist. 

Diabelli hatte eine überaus solide musikalische Ausbildung genossen. Ersten Unterricht erhielt er bei seinem Vater, der selbst Musiker war. Später förderte ihn Michael Haydn. Eigentlich sollte Diabelli Priester werden; deshalb trat er als 19jähriger in ein Zisterzienserkloster ein. Nachdem dieses 1803 im Zuge der Säkularisation aufgelöst worden war, ging er nach Wien.

Dort konnte er sich rasch als Klavier- und Gitarrenlehrer etablieren, und gründete 1817 seinen Musikverlag. Auch wenn das bekannteste Werk, das er publiziert hat, ohne Zweifel Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op 120 sind – sie gelten als letzte große Klavierkomposition des Meisters – so erweisen sich auch die Stücke, die Diabelli selbst geschrieben hat, durchaus als beachtlich. Klavierschüler schätzen seine Übungsstücke. Und auf dieser CD zeigen Flötistin Helen Dabringhaus und Gitarristin Negin Habibi, als Duo Images, dass sich auch die Beschäftigung mit den Werken Diabellis für Flöte und Gitarre lohnt. 

Am Anfang und Ende der Einspielung sind Bearbeitungen von Ouvertüren Gioacchino Rossinis zu hören. Die Opern Rossinis waren beim Publikum sehr beliebt, und so wollten die Leute die populären Melodien auch zu Hause hören. Deshalb waren Bearbeitungen, die man unproblematisch selbst spielen konnte, seinerzeit sehr gefragt – und Diabelli konnte jede Menge davon liefern. 

Das galt natürlich auch für das Schaffen anderer berühmter Komponisten. Ein faszinierendes Beispiel dafür präsentieren Dabringhaus und Habibi auf ihrer CD: Ein Pot-Pourri aus Beethovens beliebtesten Werken so zusammenzustellen wie seinerzeit Diabelli – der dazu ebenso gnadenlos wie effektvoll Abschnitte, mitunter auch nur ein paar Takte, aus Sinfonien sowie aus der Kammermusik Beethovens miteinander kombiniert hat –, das würde heute wohl niemand mehr wagen. 

Sehr beeindruckend ist auch das Duo d’après d’un Quatuor de Rode. Pierre Rode war ein gefeierter Geigenvirtuose, und weil in seinen Werken die brillante Solovioline durch die restlichen Streicher begleitet wird, bietet es sich an, den virtuosen Solopart auf die Flöte zu übertragen und durch die Gitarre begleiten zu lassen. Hinreißend schöne Melodien in abwechslungsreichen Sätzen, kunstvoll durch die Gitarre begleitet, bieten auch die beiden Grande Sérénades op. 67 und op. 99. Diabelli erweist sich einmal mehr als ein Routinier ohne Scheu vor der galanten Unterhaltungsmusik. Und die beiden jungen Musikerinnen vom Duo Images zelebrieren seine Stücke mit schönem Ton und ausgeprägter Spielfreude. Bravi! 

Dienstag, 4. Januar 2022

Christopher Tye: Complete Consort Music (Linn Records)

 

„Sing ye trew & care not, for I am trew, feare not“ – so notierte Christopher Tye in seinen Noten. Der Renaissancekomponist, geboren um 1505 und gestorben 1573, gehörte in einer schwierigen Zeit zu den führenden Komponisten geistlicher Vokalmusik. Denn er erlebte vier Herrscher, die jeweils einem anderen christlichen Glauben frönten, und diesen ebenfalls von ihrem Volk einforderten – notfalls mit Schwert und Scheiterhaufen. 

Das preisgekrönte Consort Phantasm allerdings widmet sich mit dieser Einspielung den Instrumentalkompositionen Tyes. Seine Werke, die zu den frühesten überlieferten Beispielen für Kammermusik gehören, haben es durchaus in sich. Ein gutes Beispiel dafür gibt Trust (wer will, kann hier in die Noten schauen); dieses Stück aus den 21 In nomines trägt seinen Namen, wie jedermann beim Blick in diese Partitur bald erkennen wird, sehr zu recht. 

Auch in Sit Fast – obwohl das Stück nur dreistimmig ist und auf den ersten Blick gar nicht so schwierig aussieht – werden die rhythmischen Fähigkeiten der Musiker durch die schwindelerregende metrische Komplexität auf Herz und Nieren geprüft. Das oben angeführte Zitat darf man also durchaus ernst nehmen. 

Das Consort Phantasm navigiert gekonnt und mit Spielfreude durch die mitunter derben musikalischen Scherze des Engländers. Enormes Hörvergnügen, meine unbedingte Empfehlung! 


Sonntag, 2. Januar 2022

Bach: The six Partitas BWV 825-830 (Hyperion)


 Die sechs Partiten BWV 825-830 hat Mahan Esfahani für Hyperion eingespielt. Wer das Label kennt, der weiß, dass er eine herausragende Interpretation erwarten darf. Wer mit dem Werk vertraut ist, der wird bald aufhorchen – denn der iranische Cembalist hat nicht nur einfach in die Noten geschaut, sondern sich obendrein intensiv mit den Quellen und aktuellen musikwissenschaftlichen Debatten auseinandergesetzt. 

Im Beiheft gibt es einen klugen Essay, in dem der Musiker seine Sicht auf Bachs Musik und seine künstlerischen Entscheidungen begründet. Wer aber keine Lust darauf hat, sich mit Lesarten, Verzierungspraxis und Auseinandersetzungen um das korrekte Metrum zu befassen, der kann sich ebenso gut einfach entspannt im Sessel zurücklehnen – und Esfahanis gradiosem, energiegeladenen Cembalospiel lauschen. Mich jedenfalls hat dieses Doppelalbum begeistert. Exquisit! 


Klangpantomime (Coviello Classics)

 

„Klangpantomimen“ nennt das Beiheft die sechs Sonaten von Luigi Boccherini (1743 bis 1805) für Violoncello und Bass. Die „Ballette ohne Tänzer und Bühnenbild, die der Zuhörer gleichsam mit den Ohren sieht“ präsentiert Barockcellist Dmitri Dichtiar auf dieser CD. 

Boccherini war selbst Cellist und hat diese Werke sicherlich zum eigenen Gebrauch komponiert. Glücklicherweise gab es seinerzeit noch kein Urheberrecht; so sind um 1770 in London einige dieser Stücke gedruckt und somit überliefert worden. Wer diese Aufnahme hört, der wird mir zustimmen: Der geschäftstüchtige Musikverleger hat in diesem Falle einen enormen Verlust verhindert.  

Dmitri Dichtiar spielt die ebenso anspruchs- wie effektvollen Stücke gekonnt im Dialog mit Pavel Serbin am Continuo-Cello und Thorsten Bleich, der die Basspartie mit Laute, Theorbe und Gitarre klanglich sehr ansprechend und abwechslungsreich gestaltet. Eine vorzügliche Einspielung, unbedingte Empfehlung! 


Samstag, 1. Januar 2022

Daniil Trifonov - Bach: The Art of Life (Deutsche Grammophon)


 Eine sehr persönliche Sicht auf das Schaffen Johann Sebastian Bachs offenbart dieses Doppelalbum. Um Die Kunst der Fuge, als spätes Meisterwerk, hat Daniil Trifonov Werke der vier komponierenden Söhne Bachs gruppiert, sowie eine Auswahl an kleinen Stücken aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach und zwei „Schicksalsstücke“, die eng mit der Biographie des Komponisten verknüpft sind: Die Chaconne aus der Partita für Violine solo BWV 1004 erklingt in einer Transkription für linke Hand von Johannes Brahms, und der berühmte Choral Jesus bleibet meine Freude in der bekannten Version von Myra Hess.

Daniil Trifonov befragt die alten Kompositionen aus einer sehr zeitgenössischen Perspektive. Der Pianist spielt Bach selbstverständlich am modernen Konzertflügel, und schon nach wenigen Takten ist dem Zuhörer klar, dass es ihm keineswegs um eine historisch adäquate Interpretation geht. Spätestens beim Anhören seiner Version von Die Kunst der Fuge stellt man ernüchtert fest: Für Trifonov ist Bach nicht Anfang und Ende aller Musik, sondern eher ein Accessoire, das zur Selbstinszenierung genutzt wird. Klavier freilich spielt der Mann genial – aber reicht das aus? 

Johann Strauss II: Waldmeister (Naxos)

 

Zum neuen Jahr diesmal im Blog eine Operette: Waldmeister von Johann Strauss II ist im Dezember 1895 zum ersten Mal aufgeführt worden. Dass das Opus, anders als Strauss‘ Zigeunerbaron oder Die Fledermaus, heutzutage auf der Bühne keine Bedeutung mehr hat, liegt ohne Zweifel am Libretto. 

Die vorliegende Einspielung mit einem soliden Sängerensemble, dem Sofia Philharmonic Chorus und dem Sofia Philharmonic Orchestra unter Dario Salvi zeigt, dass das Werk hier und da seine Längen und insgesamt auch ein wenig Staub angesetzt hat. Doch wenn man die Texte nicht gar so ernst nimmt, dann ist diese Verwechslungskomödie eigentlich ganz amüsant. 

Turbulenzen nämlich bietet die Handlung zur Genüge. Auf einer Landpartie retten sich junge Leute vor einem Gewitter in eine Waldmühle. Die Damen gehören zum Freundeskreis der Dresdner Sängerin Pauline; die Herren studieren an der örtlichen Forstakademie. Außerdem flüchtet sich dorthin der Plauener Botanikprofessor Erasmus Müller. Vom Müllersknecht werden die Herrschaften, da sie alle durchnässt sind, mit trockenen Sachen ausstaffiert – stilecht natürlich, mit Berufsbekleidung. 

Und während der „richtige“ Müller irgendwo einen Rausch ausschläft, beginnt die Komödie. Denn nun halten alle Müller für den Müller. Diesen Irrtum zu korrigieren, bleibt keine Zeit – mittlerweile ist Paulines Freundin Jeanne in der Mühle eingetroffen, und sie bringt schlechte Nachrichten mit: Der Direktor der Forstakademie werde in wenigen Augenblicken vorfahren, durchaus erzürnt, denn er habe von einem unerlaubten Jagdausflug seiner Zöglinge Kenntnis erlangt. 

In dieser Situation hilft nur, sich zu verstecken – während Pauline, noch immer als Müllerin verkleidet, den Herrn Oberforstrat empfängt. Dieser, obwohl eigentlich ziemlich gestreng, verfällt umgehend dem Charme der vermeintlichen Müllerin. Beim ersten Kuss freilich wird das Paar vom Botaniker photographiert, und auch die jungen Leute sind auf einmal wieder zugegen. Wer glaubt, dass sich dieses Durcheinander nicht mehr steigern lässt, der hat allerdings noch das Finale des ersten sowie zwei weitere Akte vor sich. 

Am Ende allerdings wird alles gut, und es haben sich sogar drei glückliche Paare gefunden – wenn auch nicht ganz so, wie ursprünglich vorgesehen. Aber bis dahin gibt es noch etliche witzige Szenen; dem Botaniker gelingt es, die Herkunft des extrem raren schwarzen Waldmeisters aufzuklären, und kalter Lindenblütentee verwandelt sich verblüffenderweise in eine leckere Waldmeisterbowle. 

Dazu gibt es Strauss‘ wunderbare, temperamentvolle Musik. Nicht umsonst sind etliche Stücke später zu Schlagern geworden, wie die Klipp-Klapp-Polka, die Waldmeister-Quadrille oder der Walzer Trau, schau, wem. Hinreißend!