Bachs Weihnachtsoratorium in einem Mitschnitt vom Januar 2009 - aufgezeichnet wurde das sogenannte Große Concert des Gewandhausorchesters Leipzig, und dass ausgerechnet Bach dort gespielt wurde, das ist eine Sensation. Denn das gewaltige Werk erklang in der Messestadt erstmals 1634/35 - wie vom Komponisten vorgesehen, jeweils eine Kantate in sechs Gottes- diensten vom ersten Weihnachts- feiertag bis zum Epiphaniasfest, bekannter wohl als Dreikönigstag.
Ob es zu Bachs Lebzeiten noch einmal aufgeführt worden ist, das ist nicht sicher festzustellen. Nach dem Tode des Komponisten erbte Carl Philipp Emanuel Bach Partitur und Originalstimmen. Einzelne Teile führte Johann Theodor Mosewius in den 1840er Jahren mit der Breslauer Singakademie auf. Am 17. Dezember 1857 erklang das Weihnachtsoratorium zum ersten Male wieder "komplett" - allerdings aus Rücksicht auf die Sänger um einen Halbton tiefer, und aus Rück- sicht auf das Publikum drastisch gekürzt - im Konzerthaus der Sing-Akademie zu Berlin. Geleitet hat diese denkwürdige Aufführung, die die Wiederentdeckung des Werkes einleitete, Eduard Grell. War es zunächst weniger bekannt als Bachs Passionen, so erlebte das Weihnachtsoratorium im Zuge der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung sowie der Debatten um die historisch korrekte Aufführungspraxis eine Renaissance. Aus dem Gottesdienst allerdings ist das "WO" weitgehend verschwunden; sein Platz ist heute üblicher- weise in der Adventsmusik, wo es auf zwei Abende aufgeteilt Kantor und Kirchenchor zum Schwitzen und den Profis ein Zubrot bringt, und für volle Kirchen sorgt.
Wenn Riccardo Chailly Bachs großartigem Werk einen Platz im Großen Concert einräumt, dann ist er nach Carl Reineke, der 1861 einige Ausschnitte im Gewandhaus dirigierte, der erste Gewandhaus- kapellmeister, der das Weihnachtsoratorium in Leipzigs traditions- reichen Konzertsaal holt. Und er macht es konsequent zu einem Konzertstück - mit kammermusikalischem Zugriff, teilweise atem- beraubenden Tempi, sauber gesetzten Akzenten. In den Mittelpunkt des Weihnachtsgeschehens stellt Chailly nicht etwa die Erzählung des Evangelisten, sondern vielmehr die Arien der Altistin, die er offenbar als Stimme Mariens deutet. Dabei gelingen ihm Momente von berückender Intimität.
Mit welcher Zartheit er etwa die Sinfonia dahintupft, das ist grandios. Sie wirkt wie ein Echo aus der Himmelskantorei, eher nicht wie gemeinsames Musizieren von Menschen und Engeln. Die Oboen klingen hier nicht wie bäuerliche Instrumente, grob und laut, sondern süß und schmeichelnd. Und auch der Chor ist eine Wucht - der Dresd- ner Kammerchor, gegründet 1985 von Hans-Christoph Rademann, einstudiert von seinem ersten Dirigenten Jörg Genslein, folgt Chaillys Dirigat, als könnte er Gedanken lesen.
Als Solisten sind auf dieser CD zu hören Carolyn Sampson, Sopran, Wiebke Lehmkuhl, Alt, Martin Lattke, Tenor - als sehr achtbarer Evangelist - und Wolfram Lattke, Tenor, mit einer preisverdächtigen Version der Arie Frohe Hirten, ach eilet, sowie Konstantin Wolff, Bass - naja, eigentlich ja wohl mehr Bariton.
Chailly kennt und liebt "seinen" Bach. Und es gelingt ihm, einen ganz eigenen Zugang zu dieser Musik zu finden, was - zumal in Leipzig - nicht ganz einfach sein dürfte. Aber diese Version mit ihrem Esprit und ihrer tänzerischen Leichtigkeit, mit ihrer Balance zwischen den innigen und den dramatischen Momenten mag man immer wieder hören. Bravi!
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