Manche Werke namhafter Kompo- nisten der Barockzeit werden von den Nachgeborenen nur mit Nase- rümpfen zur Kenntnis genommen. Geprägt durch den Genie-Kult der Romantik, durch die Vorstellung des Komponierens als eines weihe- vollen Dienstes an der geheiligten Kunst, fällt es uns schwer, zu ak- zeptieren, dass es in der Barockzeit durchaus üblich war, aus alten Werken neue zu machen. Dieses Verfahren nannte man pasticcio - nach dem Vorbild eines Kuchens, der aus Kuchenresten erzeugt wurde.
Bach beispielweise hatte überhaupt kein Problem mit dieser Art des künstlerischen Recyclings, und auch Händel hat dieses Verfahren genutzt. Er schuf gleich drei Werke, indem er eigene Musik mit einem neuen Libretto versah und dem neuen Funktionszusammenhang an- passte: Oreste (1734), Alessandro Severo (1738) und Giove in Argo (1739). Man kann darüber rätseln, ob es den Komponisten grämte, gelungenes Material aus wenig erfolgreichen Opern in der Schublade verschwinden zu sehen, oder ob er schlicht unter Zeitdruck stand.
Für Alessandro Severo jedenfalls, nach einem Libretto des Metasta- sio-Vorgängers Apostolo Zeno, verwendete Händel 19 Arien, En- sembles und Sinfonien aus Arminio, Giustino und Berenice - Opern der letzten Saison, die der Musikunternehmer in der Tat nie wieder aufführte. Die verbleibenden zehn Arien und ein Duett stellte er aus anderen, älteren Werken zusammen. Hier und da kleine Änderungen, damit Musik, Text und Handlung harmonieren (mitunter wohl auch, damit die Arien und die Fähigkeiten der Sänger zueinander passen), neue Rezitative und eine neue Ouvertüre - fertig.
Die Handlung ist ebenso dramatisch wie albern: Julia, die Mutter des Herrschers Alexander, hat diesen mit Salustia verehelicht. Doch wider erwarten ist die Ehe überaus glücklich. Das macht Julia eifer- süchtig; sie überlistet ihren Sohn und lässt sich von ihm ein Doku- ment unterschreiben, das seine Trennung von der geliebten Ehefrau mitteilt. Salustia wiederum, von Julia zur Dienerin degradiert, bittet ihren Vater Marziano um Hilfe. Dieser will Julia vergiften. Doch Salustia vereitelt diesen Plan. Als Marziano und seine Gefolgsmänner kommen, um Julia zu ermorden, rettet Salustia ihre Schwiegermutter erneut. Diese bereut ihre Intrige, und die Oper endet mit allgemeiner Versöhnung und einem Lobpreis der Liebe.
Alessandro Severo wurde zu Händels Lebzeiten nur einmal aufge- führt, und geriet in Vergessenheit, bis die Oper dann wiederentdeckt und 1997 beim Londoner Händel-Festival erstmals wieder vorgestellt wurde. George Petrou, der für Dabringhaus und Grimm bereits etliche Aufnahmen von Händel-Opern dirigiert hat, stellt bei dieser Erstein- spielung zugleich erstmals auf CD die Armonia Atenea vor, ein Projekt der Athens Camerata, das er seit 2009 leitet. Es singen Kristina Hammarström, Giulia, Mary-Ellen Nesi, Alessandro, Marita Solberg, Salustia, Irina Karaianni, Albina, Gemma Bertagnolli, Claudio und Petros Magoulas, Marziano. Und als Zugabe gibt's Don Crepuscolo, Azione comica d'un atto solo von Niccolò Manzaro - eigentlich Nikolaos Halikiopoulos Mantzaros (1795 bis 1872), der aus Korfu stammt, aber auch in Italien sehr angesehen war. Sein Einakter, der sich über den Antikenwahn seiner Zeitgenossen lustig macht, erweist sich als eine Tour de Force für den Solisten, der die gesamte Show als Einzelkämpfer bestreitet. Bassbariton Christophoros Stamboglis hat an dem Kabinettstückchen hörbar Vergnügen. Musiziert wird generell frisch, theatralisch und stilistisch kompetent. Bravi!
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