"Die Beschäftigung mit der Musik des Barock war im Italien des beginnenden 20. Jahrhunderts unter Komponisten sehr verbrei- tet", berichtet Pianist Till Alexan- der Körber im Beiheft zu dieser CD. Das lag nicht zuletzt daran, dass dort über mehr als hundert Jahre die Oper derart stark die vorherr- schende Gattung war, dass die Italiener in der Instrumentalmusik ziemlich weit in der Musikgeschich- te zurückschauen mussten, wenn sie an musikalische Traditionen anknüpfen wollten. Dabei hat insbesondere Luigi Dallapiccola (1904 bis 1975) ein originelles Werk hinterlassen, wie man es ähnlich nur von den deutschen Romantikern kennt.
Er hat 1955 die Sechs Sonaten für Violoncello F. XIV, 1-6 von Anto- nio Vivaldi herausgegeben - und merkt bescheiden an: Revision and realization of the Figured Bass by Luigi Dallapiccola. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Dallapiccola hat nicht nur den Gene- ralbass aus Ziffern, die heutzutage kaum noch jemand flüssig abspie- len kann, in Noten umgeschrieben. Er hat obendrein für die rechte Hand des Pianisten einen Part erschaffen, der in den Dialog zur Cellostimme tritt. "Der heutige Interpret sieht sich angesichts dieser Werke vor eine doppelte Herausforderung gestellt", so Körber: "Einerseits steht die Dallapiccolasche Bearbeitung des Öfteren im Widerspruch zu unserem Wissen um Aufführungspraxis des Barock. Zugleich verwirklicht diese Bearbeitung genau das, wozu dieses Wissen verhelfen soll: Die authentische Aneignung und Umsetzung von Musik längst vergangener Epochen. Andererseits ist die Bearbei- tung auch selbst wiederum Ausdruck der Zeit, in welcher sie ent- stand: die Art der Artikulation des Cellopartes, die im Großen und Ganzen pedallose Klanglichkeit des Klaviers sowie die strukturbe- tonte Durchsichtigkeit und damit auch reizvolle harmonische Sprödigkeit des Satzes."
Der Cellist Martin Rummel und Till Alexander Körber am Konzert- flügel kombinieren bei ihrer Einspielung Elemente der historischen Aufführungspraxis, wie spontane Verzierungen in den Wieder- holungen, mit großem Respekt vor Dallapiccolas "Bearbeitung". Das Ergebnis überrascht durch seinen schönen, satten Ton und eine beeindruckende Eleganz. Was für eine herrliche, harmonische Aufnahme!
Den Vergleich mit einer musikhistorisch korrekten Version soll eine zweite CD ermöglichen, auf der Rummel gemeinsam mit dem Cem- balisten James Tibbles musiziert. Allerdings distanziert sich Tibbles schon im Beiheft von Puristen, die auf eine Interpretation mit historischen Instrumenten und dementsprechender Spieltechnik setzen. Sie bemühten sich, "die Absichten des Komponisten zu verstehen und dadurch so nah wie möglich an die damaligen Erwartungen an eine Aufführung zu kommen".
Das Ziel von Rummel und Tibbles hingegen sei es, "eine Interpreta- tion des 21. Jahrhunderts zu erreichen". Anders als Dallapiccola, der ein Werk des 18. Jahrhunderts in die Sprache des 20. Jahrhunderts übersetzt habe, wollen sie versuchen, "den Geist des Komponisten zu erfassen". Ebenso schwammig wie diese Absichtserklärung erscheint die Version, die daraus hervorgegangen ist. Rummel spielt hier mit schlankerem, mitunter etwas ruppigerem Ton. Doch von barocker Spiellust und von den damals geläufigen virtuosen Verzierungen findet sich nicht die geringste Spur.
Das freilich ist mir zu viel 21. Jahrhundert, und deutlich zu wenig Vivaldi. Wer keine Lust hat, sich durch "ein tiefes Verständnis von Regelbüchern" die Grundlagen für eine angemessene Interpretation zu erarbeiten, der soll doch bitte nicht so tun, als ließe sich allein durch die Verwendung eines Cembalos nebst einer Version aus dem Paris des 18. Jahrhunderts, die Vivaldis unbezifferten Bass beziffert, Barockmusik simulieren. Ich jedenfalls nenne das Ignoranz - und die ist eigentlich für die Musiker des 21. Jahrhunderts nicht typisch.
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