Freitag, 28. Juni 2013

Bellini: Norma (Decca)

„Mir scheint, dass wir heutzutage bei der Beurteilung von Musik gerade aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch einem fatalen Irrtum unterliegen: Unsere Vorstellung von Interpre- tation und Klang ist geprägt von den technischen Errungenschaften und der Ästhetik des 20. Jahrhun- derts“, sagt Cecilia Bartoli. Die Sängerin hat sich intensiv mit dem Repertoire von Maria Malibran (1808 bis 1836) beschäftigt – und dabei festgestellt, dass die berühmte Mezzosopranistin viele Partien gesungen hat, die man heutzutage gänzlich anders besetzen würde. 
„Im Zuge des 20. Jahrhunderts hat sich das Publikum zudem an größere Veranstaltungsorte, wachsende Orchester und an infolge- dessen immer mehr auf Lautstärke und Brillanz getrimmte Instru- mente gewöhnt. Dementsprechend wird der Klang höher, metalli- scher und schärfer“, beklagt Bartoli. Das hat erhebliche Nachteile. Denn die menschliche Stimme ist dieser Entwicklung nur sehr bedingt gewachsen. Und: „Der Sucht nach höherem Pegel und strahlendem Klang werden also die Farben und Nuancen in den unteren Berei- chen geopfert, genau diejenige Differenziertheit also, welche Musik überhaupt zum Sprechen bringt. Die Durchsichtigkeit und Schattie- rungen des Klangs, die Balance zwischen den Registern eines Klaviers aus der Chopinzeit unterscheiden sich ja deutlich von denen eines modernen Flügels“, stellt die Sängerin fest. „Genauso verändert sich die Atmosphäre, wenn das Vorspiel zu Normas ,Casta Diva' von einer frühromantischen Holztraversflöte gespielt und die Arie wie vorgeschrieben als Gebet und im geforderten Pianissimo gesungen wird.“ 
Wer also herausfinden will, wie ein Werk ursprünglich geklungen hat, der muss sich von gewissen Konventionen lösen. Das lohnt sich, wie diese Einspielung zeigt. Sie beruht auf einer kritischen Neuedition der Oper Norma von Vincenzo Bellini (1801 bis 1835). Dass der Musik- wissenschaftler Maurizio Biondi und der Musiker Riccardo Minasi sechs (!) Jahre lang daran gearbeitet haben, das macht deutlich, wie anspruchsvoll dieses Projekt war. Denn nach der Premiere hat Bellini das Werk noch mehrfach verändert. Biondi und Minasi haben daher durch den Vergleich mit Abschriften die verschiedenen Arbeitsstän- de, die in der Partitur dokumentiert sind, erfasst und zeitlich zuge- ordnet. 
Der Hörer profitiert davon. So fand sich am Ende des ersten Aktes ein Terzetto mit einer langen Strophe für Adalgisa, Tempi wurden korri- giert, und auch der Kriegsruf der Druiden klingt hier etwas anders als gewohnt. Zu erleben ist die Oper, wie Bellini sie einst zu Papier gebracht hat – in der ursprünglichen Orchestrierung und in den Originaltonarten. 
Bellini schuf die Partie der Priesterin Norma für die Mezzosopranistin Giuditta Pasta. Die Adalgisa sang in der Uraufführung die kaum weniger bekannte Giulia Grisi, die über eine hellere Sopranstimme verfügte. Diese Konstellation wurde wiederhergestellt. Und das ist ganz klar ein enormer Gewinn, zumal damit zugleich auch etliche Striche und Notlösungen entfallen, die sich daraus ergeben haben, dass die Theaterpraxis üblicherweise der Starsopranistin die Haupt- rolle zuwies – und ein Mezzo oder gar eine Altistin sang dann die Partie der Novizin. 
Die Bartoli hat in der vorliegenden Studio-Aufnahme die Titelrolle übernommen, und Sumi Jo ist als Adalgisa zu hören. Der damals üblichen Praxis entsprechend, werden Wiederholungen verziert; Cecilia Bartoli ließ sich dabei erklärtermaßen von Variationen inspirieren, die von Schülerinnen Giuditta Pastas überliefert worden sind. 
Die Partie des Pollione ist weit weniger heldisch besetzt, als man dies traditionell erwartet. Der Tenor von John Osborn klingt hell und relativ leicht, die Stimme ist Rossini deutlich näher als Wagner. Zu hören sind zudem Liliana Nikiteanu als Clotilde, Michele Pertusi als Orovese und Reinaldo Macias als Flavio. Das Orchestra La Scintilla musiziert auf historischen Instrumenten, und Dirigent Giovanni Antonini macht deutlich, dass Bellinis ursprüngliche Klangfarben wirklich eine Entdeckung wert sind. 
Das Beiheft ist eher ein Buch, das ist selten und daher erwähnenswert. Und die beiden CD gehören in die Sammlung eines jeden Opernlieb- habers - dies ist eine überaus spannende Aufnahme, die für die Zu- kunft Maßstäbe setzt.

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