Gar nicht wenige jener Melodien, die wir heute als Volkslieder singen, haben in Wahrheit Komponisten erdacht. Johannes Brahms beispielsweise verdanken wir etliche „Volksweisen“. Und Der Mond ist aufgegangen, ein Lied, das selbst heute noch wirklich jeder kennt, hat Johann Abraham Peter Schulz nach einem Gedicht von Matthias Claudius geschrieben. Wer sich dafür interessiert, der kann beim Liederprojekt von Carus noch viele weitere Beispiele dafür finden, dass Volkslieder mitnichten uraltes Erbe sind.
Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Gesangsvereine und der Sängerfeste, waren Lieder, die sich durch volksnahe Texte und Melodien von edler Einfachheit auszeichneten, sehr gefragt. Und so kam im Jahre 1903 die Berliner Zeitschrift „Die Woche“, erschienen von 1899 bis 1944 im Verlag August Scherl, auf die Idee, einen Kompositionswettbewerb auszuschreiben: Gesucht waren neue Lieder, und sie sollten „im Volkston“ erdacht sein, „im einfachsten Rahmen und mit den einfachsten Mitteln“.
Beim ersten Versuch schrieb die Redaktion gezielt Komponisten an und bat um Beiträge. Diese erschienen dann in einem Sonderheft, mit dem Titel „Im Volkston“ – und weil die Werke der Profis der Zeitschrift noch viel zu anspruchsvoll erschienen, lud „Die Woche“ beim zweiten Versuch einfach das Volk ein, sich zu beteiligen. Eine Jury wurde bestimmt, die aus 8.859 (!) Einsendungen 30 auswählte, die dann in einem zweiten Sonderheft veröffentlicht wurden. Das Publikum erhielt Stimmzettel in Postkartenform, und konnte somit seine Favoriten wählen, die schließlich mit Geldprämien ausgezeichnet wurden.
Die Resonanz war sagenhaft – mehr als 50.000 Stimmzettel schickten die Leser innerhalb kurzer Zeit an den Verlag. Und so erschien dann noch ein weiteres Sonderheft mit Wettbewerbsbeiträgen, die „wenig mehr dem Kunstlied zustrebten“. Auch dieser Zeitschrift lag eine Stimmzettel-Postkarte bei; allerdings scheint der Erfolg dieser dritten Edition nicht mehr so groß gewesen zu sein. Denn einen Nachfolger gab es dann nicht mehr.
Dieser Aktion hat sich jetzt das Label Oehms Classics angenommen. Es präsentiert auf CD die Lieder aus dem ersten „Die Woche“-Sonderheft von 1903 – mit Ausnahme eines Beitrages für vierstimmigen Chor. Er wurde durch Waldeinsamkeit von Max Reger ersetzt – ein Lied, das der Komponist seinerzeit für den Wettbewerb einschickte, das aber „bei der Preiskonkurrenz der Woche durchgefallen“ ist, wie der empörte Reger anmerkte.
Und weil der Komponist von seiner Idee so überzeugt war, veröffentlichte er in den kommenden Jahren in sechs Bänden insgesamt 60 Lieder unter dem Titel Schlichte Weisen. Darunter war sogar eines, das tatsächlich fast zu einem Volkslied wurde: Mariä Wiegenlied; heißgeliebt vielleicht gerade aufgrund seiner Finessen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die musikalische Qualität der auf diesem Album vorgestellten Lieder ist aber generell meistens überraschend hoch – trotz aller Kürze und trotz der Einschränkungen durch die Wettbewerbsbedingungen. Enthalten sind Werke unter anderem von Hans Pfitzner, Robert Kahn, Eugen d'Albert, Siegfried Ochs, Ludwig Thuille, Siegfried Wagner , Engelbert Humper- dinck oder Carl Reinecke.
Vorgetragen werden die Lieder mit großer Sorgfalt durch Regula Mühlemann, Sopran, Okka von der Damerau, Mezzosopran, Wolfgang Schwaiger, Bariton, und Tareq Nazmi, Bass. Am Klavier begleitet Adrian Baianu. Es ist dies eine wunderschöne Einspielung, von allen Beteiligten liebevoll gestaltet. Auf die Fortsetzung mit den Liedern im Volkston der Sonderhefte zwei und drei darf man schon heute gespannt sein. Und wer die Lieder nachsingen und -spielen möchte – genau dafür waren sie einst gedacht – der wird sich sehr über die begleitende Notenedition freuen.
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