Das Ballett Der Nussknacker gehört zur Weihnachtszeit wie Pfeffer- kuchen, Räuchermännchen, eine Pyramide oder der Weihnachts- baum. Pjotr Iljitsch Tschaikowski wurde zu diesem Werk durch Iwan Wselowoloschki, den Direktor der Kaiserlichen Theater zu St. Peters- burg, geradezu gedrängt. Nach den Vorgaben von Ballettmeister Marius Petipa komponierte er, wobei sich der erste Akt ziemlich eng an der Erzählung Nußknacker und Mausekönig von E.T.A Hoffmann orientiert - bis zu dem legendären Pantoffelwurf jedenfalls, mit dem die kleine Marie den Mausekönig nebst seinen Truppen in die Flucht schlägt.
Für die Fortsetzung wählte er dann lieber die Version von Alexandre Dumas père, in der sich der Nussknacker in einen knackigen jungen Mann verwandelt, den Marie heiratet. Und weil das allein für ein Ballett noch nicht dekorativ genug wäre, wurde noch die Zuckerfee erfunden, die über das Reich der Süßigkeiten herrscht - und die dramatische Handlung des ersten Aktes mit dem Puderzucker diver- ser Divertissements überstäubt. Ach, dieser Tanz der Rohrflöten, diese Soli von Schokolade, Kaffee und Tee, diese Trepak tanzenden Sahnebonbons und diese Celesta-Klänge beim Tanz der Zuckerfee - wer dabei Zahnschmerzen bekommt, der hat kein Herz.
Die Liste der Aufnahmen dieses Balletts ist lang; in dieser Reihe finden sich nicht zuletzt viele berühmte russische Orchester mit ihren Dirigenten. Wer mit ihnen konkurrieren will, der sollte eigene Ideen einbringen, die gegen die traditionelle Puderzuckerwelt bestehen müssen. Das ist nicht ganz einfach, wie auch die vorliegende Auf- nahme mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle deutlich macht. Er erkundet das Werk, statt sich ihm hinzugeben. So wirkt diese Einspielung sehr intellektuell und seltsam distanziert, eher sinfonisch als tänzerisch. Im ersten Akt bringt dieser Zugriff einige interessante Effekte, im zweiten überwiegend Längen. Und das ist schade. Mir jedenfalls gefallen die farbenreichen russischen Inter- pretationen besser - trotz "Experience Edition".
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