Es gibt einige Werke, die das Zeug zur Bibel des Klavierspiels haben - und wenn man Bachs Wohltempe- riertes Klavier sozusagen als das Alte Testament ansieht, dann hätten Beethovens Diabelli-Varia- tionen durchaus das Format für den Vergleich mit dem Neuen Testament. Das sahen schon Beet- hovens Zeitgenossen ganz ähnlich: "Der Herausgeber erblickt in dieser riesigen Tonschöpfung gewissermassen den Mikrokosmos des Beethovenschen Genius überhaupt, ja sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt im Auszuge. Alle Evolutionen des musikalischen Denkens und der Klangfantasie - vom erhabensten Tiefsinn bis zum verwegensten Humor - in unvergleich- bar reichster Mannigfaltigkeit, gelangen in diesem Werke zur bered- testen Erscheinung", begeisterte sich 1871 Hans von Bülow. "Uner- schöpflich ist das Studium desselben, unaufzehrbar die in seinem Inhalte dem musikalischen Hirne ganzer Generationen gebotene Nahrung."
Márta Kurtág, die Frau des ungarischen Komponisten György Kurtág, hat die 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli op. 120 1952 zum ersten Mal vor Publikum vorgestellt - zu ihrem Diplomkonzert an der Budapester Musikakademie. Die vorliegende Aufnahme spielte die Pianistin 1999 ein. Dazwischen liegen nicht nur Jahre. "Die Diabelli-Variationen habe ich mehrmals im Konzert gespielt", berichtet Márta Kurtág, "manchmal jedoch erst nach einer langen Pause. In solchen Fällen haben wir sie mit meinem Mann immer wieder neu aufgebaut, und ich habe sie auch immer wieder neu einstudiert."
Mit der Einspielung von Beethovens grandiosem Werk wollte die damals 72jährige Pianistin ein Zeichen setzen, eine Spur hinterlassen - es war ihre erste Solo-Aufnahme überhaupt. "Stets war mein Kummer, dass ich für die Welt nicht als eigenständiges Wesen existiere, sondern nur als jemand, der quasi nur als ,Anhängsel' meines Mannes gilt." Doch die akustischen Bedingungen der Auf- nahme waren ungünstig, und so fand die Einspielung zunächst wenig Beachtung. Nach dem Remastering dürfte sich das nun ändern.
Denn diese Interpretation ist derart facetten- und nuancenreich, und zugleich derart kraftvoll, mitunter auch energisch, und ausdrucks- stark, dass man erstaunt aufblickt: Was, schon die Fuge und das abschließende Menuett? Von Vergreisung keine Spur! Und noch immer entwickelt sich diese faszinierende Künstlerpersönlichkeit weiter: "Manchmal denkt mein Mann, dass ich mit meinen 82 Jahren die Diabelli-Variationen erneut aufnehmen sollte", meint die Virtuo- sin. "Für mich ist das selbstverständlich illusorisch... Vielleicht würde ich sie heute anders spielen: freier, weniger streng und mit mehr Wärme..."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen