Darf man verlorene Werke von Johann Sebastian Bach rekonstru- ieren? Und wenn ja, in welchem Umfang sind Ergänzungen zulässig? Darf man beispielsweise Rezitative, deren Musik nicht überliefert ist, neu komponieren? Wo sind Entdeckun- gen möglich, und wo wird die Grenze überschritten zu einem musikalischen Disney-Land?
Einen Beitrag zu dieser Debatte liefert Alexander Grychtolik. Er hat, mit dem Ensemble Deutsche Hofmusik, die Trauerkantate BWV 244a Klagt, Kinder, klagt es aller Welt einge- spielt. Dieses Werk hatte Bach im Jahre 1729 für den Gedächtnisgottes- dienst seines früheren Dienstherrn Fürst Leopold von Anhalt-Köthen geschrieben, der im November 1728 gestorben war.
Die Trauerfeierlichkeiten sind, wie damals üblich, minutiös dokumentiert; wir wissen, wie der Gottesdienst verlaufen ist, ja, selbst was die Gäste an- schließend speisten. Die Trauermusik erklang aufgeteilt in vier Abschnitte, die Landestrauer, Tod und Erlösung, eine nochmalige Würdigung des Verstorbenen sowie Trost und Abschied zum Gegenstand haben. Das Libretto schuf der Leipziger Christian Friedrich Henrici, besser bekannt unter dem Pseudonym Picander. Es ist gleich in drei Versionen überliefert – die Musik dazu allerdings nicht.
Schon 1873 wurde bei der Arbeit an der ersten Bach-Gesamtausgabe festgestellt, dass Bach für die Trauerkantate im Parodieverfahren auf zwei ältere Werke, nämlich die Trauerode für Kurfürstin Christine Eberhardine BWV 198 und die Matthäus-Passion BWV 244, zurückgegriffen hat. Die allermeisten Einzelsätze ließen sich damit zuordnen. Zudem folgt Grych- tolik Vorschlägen des Musikwissenschaftlers Detlef Gojowy, der darauf hingewiesen hatte, dass auch im Falle der Accompagnato-Rezitative Analogien zur Matthäus-Passion aufzufinden sind. Die fehlenden Teile – es sind nur noch wenige – wurden angelehnt an entsprechende Vorbilder neu komponiert.
Man muss anerkennen, dass es Alexander Grychtolik sehr schlüssig gelungen ist, die Köthener Trauermusik zu rekonstruieren. Auch bei der Aufführung folgt das Ensemble Deutsche Hofmusik unter seiner Leitung den historischen Fakten: In Köthen gab es zwar eine exzellente Hofka- pelle, aber keine Kantorei. So wird Bach neben den herausragenden Musikern, wie dem berühmten Gambisten Christian Ferdinand Abel, nur einige wenige professionelle Sänger zur Verfügung gehabt haben. Neben den Solisten Sidonie Otto, David Erler, Hans Jörg Mammel und Daniel Ochoa sind hier noch fünf Ripienisten eingesetzt. Musiziert wurde in der Köthener Stadtkirche St. Jakob; der Kirchenraum ist allerdings heute nach diversen Umbaumaßnahmen, zuletzt im 19. Jahrhundert, nicht mehr in dem Zustand, in dem er sich zu Bachs Zeiten befand.
Es ist also nicht mehr ganz der originale Klangraum; die Grablege des Fürstenhauses von Anhalt-Köthen befindet sich in der Kirche aber bis zum heutigen Tage. In dieser besonderen Atmosphäre hat das Ensemble Deutsche Hofmusik im September 2014 die Trauermusik aufgeführt – und das sehr beeindruckend, wozu nicht zuletzt Instrumentalsolisten wie die Flötisten Jan de Winne und Christine Debaisieux, Mechthild Karkow, Violine, und natürlich Marcel Ponseele mit beitragen. Geht es um Barock- musik, ist dieser Oboist derzeit eine Klasse für sich.
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