Dienstag, 31. August 2010

Boris Tchaikovsky: Andersen Fairy Tales (Naxos)

Boris Tschaikowski (1925 bis 1996), offensichtlich mit dem be- rühmten russischen Komponisten nicht verwandt, begann seine Ausbildung am Moskauer Konser- vatorium 1941. Er studierte Klavier bei Lew Oborin und Komposition zunächst in der Klasse von Wissa- rion Schebalin. 
1946 begann Dmitri Schostako- witsch, an der Hochschule zu un- terrichten, und Schebalin empfahl seinem Schüler, in dessen Klasse zu wechseln. Schon zwei Jahre später, im Zuge der "Anti-Formalismus-Kampagne", flogen beide von der Hochschule. Tschaikowski, der als "kontaminiert" galt, und sich oben- drein der Hexenjagd auf Schostakowitsch verweigerte, wechselte in die Klasse von Nikolai Mjaskowski, und konnte dort seine Ausbildung 1949 abschließen.
Immer wieder bekam der Komponist Schwierigkeiten, weil er nicht das lieferte, was die offiziellen Stellen gerade hören wollten. So schrieb er 1965 einen Liedzyklus für Sopran und Klavier nach Texten von Joseph Brodsky. Der Dichter, der später den Nobelpreis erhielt, war da gerade nach einer Hetzkampagne wegen "Parasitentum" zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Und natürlich wurden nicht nur seine Gedichte, sondern auch Tschaikowskis Lieder verboten. 1984 schrieb der Komponist die Stücke um - und machte Vier Prälu- dien für Kammerorchester daraus.
Tschaikowski schuf zudem mehr als 30 Filmmusiken, insbesondere für Kinderfilme und Trickfilme, sowie zahlreiche Bühnenmusiken und gut zwei Dutzend Musiken für Hörspiele. Zwischen 1954 und 1958 beispielweise schrieb er die Musik für fünf Rundfunkproduktionen mit Märchen von Hans Christian Andersen. Die Manuskripte tauchten 2003, sieben Jahre nach dem Tode des Komponisten, wieder auf. Kyrill Erschow hat, unterstützt durch den Komponisten Petr Klimow, daraus drei Suiten zusammengestellt. Er dirigiert auch das Musica Viva Kammerorchester, Moskau, dass diese Werke zum ersten Mal auf CD vorstellt und so auch "im Westen" bekannt macht.
Das ist sehr verdienstvoll, denn mit Boris Tschaikowski lernen wir einen Komponisten kennen, der sein Handwerk beherrscht, und zeigt, dass auch Moderne durchaus klangvoll sein darf. Für Andersens Märchen verwendet er natürlich das eine oder andere Zitat, mitunter liebevoll-ironisch verfremdet. Diese CD aber weckt das Interesse für seine Sinfonien, Streichquartette und Konzerte - Musik, die nicht vordergründig eine Begleitfunktion und ein vorgegebenes Thema hat.

Prague Brass Ensemble (Arcodiva)

1979 gründete der angehende Posaunist Jan Votava zusammen mit dem Hornisten Jiri Lisy das Blechbläserquintett des Prager Konservatoriums. Es existiert noch immer - nur heißt es mittler- weile Prager Blechbläserensemble; schließlich hat jedes Studium ein- mal sein Ende. Zur Besetzung gehören heute außerdem Frantisek Bilek und Arnold Kinkal, Trompe- te, sowie Karel Kucera, Bassposau- ne.
Den Musikern zu lauschen, die hingebungsvoll die reiche Musiktradition Böhmens pflegen, aber bei der Auswahl ihres Repertoires gern auch über Gartenzaun und Lan- desgrenzen schauen, ist ein ausgesprochenes Vergnügen. Von der Spätrenaissance, vertreten auf dieser CD durch die Intrada von Simon Lomnický von Budec sowie die Prager Tänze von Valerius Otto, über Braockmusik von Pachelbel, Telemann und Bohuslav Matej Cernohorský bis hin zur schmissigen Verdi-Opernsuite, den Carmina burana von Carl Orff  und dem Klavierzyklus Für Kinder von Béla Bartók erklingen Werke quer durch Stile und Epochen. Die CD endet mit der Sinfonietta von Leos Janácek, zwei Suiten von Liedern, die Jaroslav Jezek in den 20er und 30er Jahren für das berühmte Ozvobozené divadlo, das Befreite Theater, komponiert hat, und mit zwei durchaus schmissigen Werken von Václav Kozel, Komponist, Jazz-Saxophonist und seit 2002 Chefdirigent der Bigband des Tschechischen Rundfunks. Arrangiert wurden die Stücke - bis auf die der letzten beiden Komponisten - mit sicherer Hand von Jan Votava. Allzu grelle Effekte vermeidet das Prager Blechbläserensemble. Wer ausgewogenes, harmonisches und mitunter auch humorvolles Musi- zieren schätzt, dem wird diese kleine Reise durch die Jahrhunderte gefallen.

Sonntag, 29. August 2010

Geistliche Musik der Bach-Familie (Hänssler)

Wie weit verzweigt die Musiker- familie Bach war, davon vermittelt diese 3-CD-Box eine Ahnung. Helmuth Rilling, der sich insbeson- dere dem Vokalwerk Bachs seit Jahrzehnten und in geradezu enzyklopädischer Breite widmet, hat dafür geistliche Musik aus allen Generationen zusammengestellt. Ausgangspunkt dieser musikhisto- rischen Exkursion ist die Trauer- musik Unser Leben ist ein Schatten von Johann Bach (1604 bis 1673). Der älteste Sohn des Wechmarer Musikers Johannes Bach, Begründer der Erfurter Linie der Familie, ist der erste Bach, aus dessen Feder Kompositionen überliefert sind. Auch sein jüngster Bruder Heinrich (1615 bis 1692) hat komponiert. Von den Werken des Begründers der Arnstädter Linie freilich hat sich kaum etwas erhalten; zu hören ist auf dieser CD Ach, dass ich Wassers g'nug hätte in meinem Haupte. Georg Christoph Bach (1642 bis 1697), der Stammvater der Fränkischen Linie, war der älteste Sohn des Erfurter Stadtpfeifers und späteren Arnstädter Hof- und Stadt- musikus Christoph Bach. Nur ein einziges Werk aus seiner Feder ist überliefert, das Psalmkonzert Siehe, wie fein und lieblich ist's.
Johann Christoph Bach (1642 bis 1703), der älteste Sohn Heinrichs, wurde 1663 Organist der Schlosskirche in Arnstadt. Zwei Jahre später berief ihn der Eisenacher Rat zum Stadtorganisten, und er wurde Cembalist der herzoglichen Hofkapelle. Auf der CD ist er mit der Solo-Kantate Wie bist Du denn, o Gott, in Zorn auf mich entbrannt vertreten. Im Beiheft wird ihm von Textautor Klaus Hofmann zudem die Motette Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn zugeschrie- ben, "die wahrscheinlich in J.S. Bachs Notensammlung vorhanden war und lange Zeit als Werk des Thomaskantors galt". In der Titel- übersicht allerdings wird sie als Werk Johann Sebastian Bachs geführt. 
Von Johann Michael Bach (1648 bis 1692), dem zweiten Sohn Heinrichs, ist die Neujahrsmusik Sei, lieber Tag, willkommen zu hören. Er war der Vater von Bachs erster Frau Maria Barbara, und also der Großvater von Carl Philipp Emanuel (auf dieser CD nicht vertreten!) und Wilhelm Friedemann Bach (1710 bis 1784). Aus seinem Werk wurde für diese CD die Osterkantate Erzittert und fallet ausgewählt.
Johann Nikolaus Bach (1669 bis 1753) wiederum war der älteste Sohn von Johann Christoph Bach. Er studierte an der Universität in Jena, reiste anschließend durch Italien und wurde dann Stadtorganist in Jena, später zusätzlich Universitätsorganist. Von ihm erklingt hier die Missa brevis Allein Gott in der Höh sei Ehr. Sein Zeitgenosse Johann Ludwig Bach (1677 bis 1731) gehört keinem der oben benannten Zweige der Bach-Familie an. Er war der Sohn des Schulmeisters und Kirchenmusikers Jakob Bach aus Thal in Thüringen. Er absolvierte das Gymnasium in Gotha, studierte dann Theologie und ging an- schließend als Lehrer und Kantor nach Bad Salzungen. Von dort wechselte er nach Meiningen, wo er zunächst als Hofkantor und Pagenerzieher, und dann als Hofkapellmeister wirkte. Die Kantate
Die mit Tränen säen
zeigt, dass die thüringische Residenz seinerzeit einen phantastischen Chor gehabt haben muss. 
Johann Ernst Bach (1722 bis 1777), ein Urenkel von Johann Bach, war Patenkind und zweitweilig auch Schüler von Johann Sebastian Bach. 1749 übernahm er die Organistenstelle seines Vaters, des Eisenacher Stadtorganisten Johann Bernhard Bach; zeitweilig leitete er auch die Weimarer Hofkapelle. Auf CD ist er mit der Pfingstkantate Die Liebe Gottes ist ausgegossen zu vernehmen. 
Aus der Mailänder Zeit von Johann Christoph Bach (1735 bis 1782), des jüngsten Sohnes des Thomaskantors, bekannt auch als "Londoner Bach", sind Teile eines Requiems zu hören. Das Schaffen seines Bruders Johann Christoph Friedrich Bach (1732 bis 1795), dem "Bückeburger Bach", wird durch die Motette Wachet auf, rufet uns die Stimme repräsentiert. Sein Sohn Wilhelm Friedrich Ernst Bach (1759 bis 1845) beschließt mit einem Vater unser die lange Reihe der geist- lichen Kompositionen. 
"Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichne- te Anlage zu einer und eben derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachische", meinte schon Bachs Biograph Johann Nikolaus Forkel. "Durch sechs Generationen hindurch haben sich kaum zwey oder drey Glieder derselben gefunden, die nicht die Gabe eines vorzüglichen Talents zur Musik von der Natur erhalten hatten, und die Ausübung dieser Kunst zu der Hauptbeschäftigung ihres Lebens machten." 
Indem Helmuth Rilling den Spuren der Bach-Familie folgt, macht er auch gut 200 Jahre Musikgeschichte hörbar - ein interessantes Unterfangen, das allerdings durch die Reihenfolge der Werke beeinträchtigt wird. Denn der Zeitstrahl startet auf jeder CD neu, an willkürlich gewählter Stelle, was einige Verwirrung stiftet. Wann und wo die Aufnahmen entstanden sind, bleibt das Geheimnis des Labels. Beteiligt sind an dem Projekt ganze Heerscharen von Musikern und Sängern sowie vier Chöre. Die Qualität der einzelnen Einspielungen differiert leider erheblich - und somit kann hier auch kein ungetrübtes Hörvergnügen versprochen werden. Dennoch ist das Konzept interessant, und der Erkenntnisgewinn beträchtlich.

Sylvio Lazzari, Volkmar Andrae: The Complete Works for Violin and Piano (Genuin)

Die Violinistin Ilona Then-Bergh und der Pianist Michael Schäfer, beide Professoren an der Hoch- schule für Musik und Theater in München, haben eine gemeinsame Leidenschaft: Sie graben nach ver- sunkenen musikalischen Schätzen - Werken für ihr jeweiliges Instru- ment oder für die Kammermusik, die aus dem Konzertleben ver- schwunden sind, die sie aber für eine Bereicherung des Repertoires halten.
Genuin Classics hat eigens für solche Wiederentdeckungen die Reihe Unerhört eingerichtet. So spielt Schäfer derzeit für das Leipziger Label die Klavierwerke von Vincent d'Indy ein. Und auf der vorliegenden CD stellen die beiden Musiker Werke aus der Zeit der Jahrhundertwende vor - vom 19. zum 20. Jahrhundert, wohlgemerkt. 
Sylvio - eigentlich Josef Fortunat Silvester - Lazzari, geboren 1857 in Bozen, ging nach dem Jura-Examen nach Paris, wo er am Pariser Konservatorium Komposition studierte, unter anderem bei Charles Gounod. Er blieb in Frankreich, bis zu seinem Tode 1944. Musikalisch steht er zwischen zwei verehrten Meistern, seinem Lehrer César Franck und - Richard Wagner. Formal erscheint seine Violinsonate in E-Dur in op. 24 ziemlich konventionell; sie folgt dem Modell, das für große Konzertsonaten seit Beethoven gesetzt ist. Das Werk beginnt im Unisono, und serviert auch sonst in erster Linie eine große Portion Pathos - mein Geschmack ist es nicht. Das zweite Stück, Lazzaris Scherzo für Violine und Klavier aus dem Jahre 1931, wirkt etwas eleganter, humorvoller. 
Auch der Schweizer Komponist Volkmar Andrae (1879 bis 1962) ist vielleicht noch am ehesten bekannt durch sein Eintreten für das Werk Bruckners, das er immer wieder dirigiert hat. Das ist in der Tat schade, denn seine Sonate für Violine und Klavier in D-Dur op. 4, die er als 25jähriger schrieb, zeigt nicht nur, dass der junge Mann hand- werklich sehr solide agiert. Sie beweist auch, dass es ihm an  Kühnheit nicht mangelt, seinen eigenen Weg zu gehen. Denn Brahms und Wagner in einem Stück hörbar werden zu lassen, das war zur Zeit des Fin de Siècle, als die Kritiker noch mächtig und wortgewaltig waren, schon ziemlich mutig.
Ilona Then-Bergh und Michael Schäfer engagieren sich spürbar für ihre Entdeckungen. Dennoch bleibt am Ende das schale Gefühl, dass diese Werke nicht ganz zu unrecht im Nebel der Zeiten verschwunden sind. Sie lassen nicht wirklich aufhorchen, und es fehlt ihnen die Ori- ginalität, die musikalische Handschrift eines Strauss, die Extravaganz eines Satie oder die Experimentierfreude eines Schulhoff.

Schumann: Scenen - Matthias Kirschnereit (Berlin Classics)

"Es ist das Klavier, mit dem Robert Schumann die Bühne seines künst- lerischen Schaffens betritt und we- nige Tage vor seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt wieder verlässt", sagt der Pianist Matthias Kirschnereit. "Dabei spielt zeit- lebens das kurze, scharf umrissene Charakterstück eine dominierende Rolle." In diesen Miniaturen, die oft nur wenige Minuten dauern, fand der Komponist die Form, die ihm sowohl den Ausdruck der widerstrebenden Facetten seiner Persönlichkeit als auch seiner Eindrücke, Gefühle und Gemüts- zustände ermöglichte.
Die Beschäftigung mit Schumanns Gedanken, Ideen und Visionen sieht Kirschnereit als eine "Seelenreise", als Abenteuer: "Und es ist bewegend, nachzuempfinden, wie sich der Enthusiasmus, das jugendliche Ich-Gefühl, das Verliebtsein, die schroffen Extreme, die strahlenden Kreuz-Tonarten des frühen Schumann im Verlaufe seines Schaffens mehr und mehr abmildern, nach innen kehren - bis hin zu den erschütternden 'Geistervariationen'."
Damit ist auch das Konzept der vorliegenden CD beschrieben: Kirschnereit beginnt mit den Papillons op. 2, entstanden bis Anfang 1832, ergänzt dann die Kinderscenen op. 15. "Und daß ich es nicht vergeße, was ich noch componirt", schrieb Schumann 1838 an seine Verlobte Clara Wieck: "War es wie ein Nachklang von Deinen Worten einmal wo Du mir schriebst 'ich käme Dir auch manchmal wie ein Kind vor' - Kurz, es war mir ordentlich wie im Flügelkleid und hab da an die 30 kleine putzige Dinger geschrieben, von denen ich ihrer zwölf ausgelesen und 'Kinderscenen' genannt habe. Du wirst Dich daran erfreuen, mußt Dich aber freilich als Virtuosin vergeßen".
Nach den 18 "kleinen putzigen Dingern", die nicht Aufnahme in die Kinderszenen fanden, suchen Musikwissenschaftler noch heute - und manchmal haben sie offenbar sogar Glück. So fand die Bibliothekarin Roswitha Lambertz in Überlingen 2006 bei der Erfassung eines Nachlasses 24 Takte von Robert Schumann - "Herrn Julius Allgeyer mit dem Wunsche, daß immer sanfte Töne Ihn begleiten mögen", so die Widmung Clara Schumanns, die das Blatt 1856 verschenkt hatte. Das Stück Ahnung erklingt hier als Ersteinspielung. 
Es ist erstaunlich, wie oft Werke von Robert Schumann Literatur reflektieren. Beschäftigten ihn in seinen Jugendjahren die Bücher von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, so war es das Jagdbrevier von Hein- rich Laube, dass den Komponisten 1849/50 inspirierte, eine Folge von neun Klavierstücken zu schreiben, die er Waldscenen op. 82 nannte. Sie sind ähnlich dunkel und geheimnisvoll wie der Wald - der hier nicht nur als romantischer Rückzugssort gezeigt wird, sondern zugleich auch als unheimliche Gegenwelt, in der eine latente Bedrohung lauert. Eines dieser Stücke, Vogel als Prophet, empfand der Schriftsteller Hermann Hesse als "hold und geheimnisvoll". Er gehört offenkundig auch zu den Lieblingsstücken Kirschnereits; während die Jugendwerke eher beliebig wirken, gelingt dem Pianisten hier eine grandiose Interpretation.
Folgt man dem Lebensweg Schumanns weiter, muss man bald erkennen, was der Vogel angekündigt hat: Thema und Variationen in Es Dur, die sogenannten Geistervariationen, sind Schumanns letztes vollendetes Werk. Er notierte sie unter größten Qualen, von Stimmen gepeinigt; am 27. Februar 1854 fertigte er eine Reinschrift an - und lief mitten in der Arbeit davon, "nur im Rock, im schrecklichsten Regenwetter, ohne Stiefel, ohne Weste", so wird berichtet. Der Düsseldorfer Musikdirektor eilte zum Rhein, warf erst seinen Ehering hinein, und sprang dann selbst ins eisige Wasser. Wenige Tage später begab er sich in eine Nervenheilanstalt; dort starb er 1856. 
Die Geistervariationen wurden erst 1939 veröffentlicht; seit 1995 steht eine Urtext-Ausgabe zur Verfügung. Kirschnereit beendet mit diesem seltsamen Werk sein musikalisches Porträt Schumanns. Seine luzide, reduzierte, analytisch angelegte Interpretation dieses selten zu hörenden Stückes ist für mich der Höhepunkt dieser CD. Unter all den Aufnahmen, die zu Schumann-Jubiläum erschienen sind, ist das mit Sicherheit die spannendste, originellste - und auch pianistisch-handwerklich gehört diese CD ohne Zweifel zu den besten Neuerscheinungen des Jahres. Bravo!

Mittwoch, 25. August 2010

Mozart & Petrini: Early Sonatas with Violin Accompaniment (Etcetera)

Die Einfachpedalharfe ist das Instrument der Wahl für Masumi Nagasawa. Die japanische Harfe- nistin engagiert sich seit Jahren, um dieses Instrument wieder bekannt zu machen, das einst die barocke Harfe ablöste und dann selbst durch die Doppelpedalharfe ersetzt wurde, die sich Sébastien Erard 1810 patentieren ließ. "Man darf nicht vergessen, dass alle Kompositionen, die vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts für Harfe geschrieben worden sind, auf diesem Typ Harfe gespielt wurden", so die Musikerin. 
Ihr gelang bei einem Besuch in der Königlichen Bibliothek in Den Haag  eine verblüffende Entdeckung: Sie sah sich einen frühen französischen Druck von sechs Sonaten Mozarts an - und las dort einigermaßen verblüfft die Bemerkung: Ces Pieces peuvent s'exécuter sur la Harpe. 
Komponiert hatte Mozart diese Werke im Alter von neun Jahren bei einem Aufenthalt in Den Haag 1765/66. Sie waren für Cembalo mit Begleitung durch eine Violine bestimmt - eine kuriose Kombination, die Mozart im Jahr zuvor bei dem Cembalisten Johann Schobert in Paris kennengelernt hatte. Mit einer Ausnahme bestehen sie aus lediglich zwei Sätzen, und sie sind musikalisch enorm abwechslungs- reich. "Ich glaube, dass die Bandbreite an Farben und dynamischen Möglichkeiten in beeindruckender Weise wächst, wenn man diese Sonaten auf der Harfe spielt, statt auf dem originalen Cembalo", unterstreicht Nagasawa. "Dazu verleiht der Harfenklang den Stücken eine galante Leichtigkeit, und die Muster aus gebrochenen Akkorden in der Begleitung klingen auf der Harfe einfach perfekt." 
Die Harfenistin kombiniert Mozarts Sonaten mit zwei ähnlichen Werke von Franceso Petrini (1740 bis 1820). Der Vater dieses Harfen- virtuosen war Harfenist am Hofe Friedrichs des Großen in Berlin; Petrini junior gab sein Debut 1770 beim Concert Spirituel in Paris, und verbrachte auch den Rest seines Lebens an der Seine. Und natürlich musste das Adagio in C-Dur, KV 617a für Glasharmonika noch mit auf die CD. Der ätherische Klang der Einfachpedalharfe passt in der Tat gut zu diesem Stück; allerdings hätte man sich eine etwas weniger gefühlsbetonte Interpretation für diese kleine Rarität gewünscht.
Der schlanke und silbrige Klang der Harfe aus der Werkstatt von Jean-Mathias Wolters (1785, Paris) harmoniert gut mit der Barockvioline von Ryo Terakado, gebaut 1690 in Mailand von Giovanni Grancino. Der Violinist begleitet die konzertierende Harfe sensibel und technisch versiert. Insgesamt eine hübsche CD, die insbesondere Harfen-Fans mit einem kleinen Hang zur Romantik entzücken dürfte.

Dienstag, 24. August 2010

Davidoff: Cello Concertos 3 & 4 (cpo)

Es gibt doch noch wirkliche Über- raschungen für Klassikfreunde. Diese CD bringt gleich mehrere davon: Davidoff? Nein, mit Zigar- ren hat diese Aufnahme nichts zu tun. Der gebürtige Kurländer Carl Juljewitsch Davidoff  (1838 bis 1889), Sohn eines Arztes und Amateurgeigers, hat Mathematik studiert - und nebenher eifrig Cello geübt; seine Lehrer waren Heinrich Schmitt und Carl Schuberth. 
Nach dem Examen 1858 erlaubte ihm der Vater, nach Leipzig zu gehen, um dort an dem berühmten Konservatorium seine musikali- sche Ausbildung fortzusetzen. Das Cello allerdings, so ist überliefert, ließ Davidoff zu Hause - dem jungen Mann ging es wohl eher um die Musiktheorie. Doch dann wollte ein Kommilitone dem Professor ein Klaviertrio vorstellen, das er geschrieben hatte. 
Ein Geiger fand sich; der Komponist selbst setzte sich ans Klavier, und Davidoff meinte, er könne "ein wenig" auf dem Violoncello spielen. Man gab ihm ein Leihinstrument - und kurz darauf wurde ihm eine Stelle im Gewandhausorchester angeboten. Bereits am 15. Dezember 1859 stellte Davidoff als Solist in Leipzig sein Cellokonzert op. 5 vor; im Jahr darauf übernahm er die Cello-Klasse von Friedrich Grütz- macher am Leipziger Konservatorium. 
1862 kehrte er nach Russland zurück. Dort war er von 1862 bis 1882 als Solocellist an der Kaiserlichen Oper und als Professor an dem soeben von Anton Rubinstein gegründeten Konservatorium in Sankt Petersburg tätig. Von 1876 bis im Jahre 1887 war er sogar dessen Direktor, musste den Posten jedoch räumen, weil er eine Affäre mit einer schönen Klavierschülerin hatte - was aufflog und einen unge- heuren Skandal verursachte. All das erfährt der Leser aus dem Beiheft zu dieser CD, mit einem kenntnisreichen und sehr lesenswerten Aufsatz von Eckhardt van den Hoogen - Überraschung Nummer zwei. Davidoff  komponierte Cellokonzerte, vier an der Zahl, sowie Lieder, Balladen und Kammermusik. Außerdem schrieb er eine Violoncello-Schule.
Tschaikowski, sein Mitbewerber um die Direktorenstelle, pries ihn als den Zaren unter den Cellisten und widmete ihm sein Capriccio Italien. Das ist auf dieser CD nicht aufgezeichnet - dafür aber, Über- raschung Nummer drei, das Nocturne op. 19 Nr. 4, das Pezzo Capriccioso op. 62 und das Andante cantabile aus dem ersten Streichquartett D-Dur op.11.
Die eigentliche Überraschung aber ist der Solist, den ich hier zum ersten Male gehört habe - und der vom ersten bis zum letzten Takt begeistert: Wen-Sinn Yang, viele Jahre lang Solocellist im Sympho- nieorchester des Bayerischen Rundfunks, seit 2005 Professor an der Musikhochschule München, spielt Davidoffs Konzerte mit einer Leichtigkeit, die ich hinreißend finde. Er stellt die eleganten Werke derart souverän vor, dass man sich fragt, warum diese attraktiven, melodiösen und zugleich kraftvollen Konzerte nicht längst zum Repertoire eines jeden Cellisten gehören. Grandios! Er spielt so klangschön, so überlegt und zugleich so virtuos, dass man atemlos lauscht. Was für ein Erlebnis! 
Auch das Shanghai Symphony Orchestra unter Terje Mikkelsen, das ihn hier begleitet, ist zunächst eine Überraschung. Bei den Davidoff-Konzerten jedenfalls. Die Tschaikowski-Stücke hingegen versinken im orchestralen Mulm; am Arrangement allein kann das nicht liegen. Dazu kommen einige schiefe Töne, insbesondere seitens der Blech- bläser - schade. Ein Weltklasse-Orchester klingt anders.

Montag, 23. August 2010

Une larme - Rosario Conte (Carpe diem)

Rosario Conte, Spezialist für histo- rische Zupfinstrumente, wendet sich mit dieser CD einem großen Gitarristen der Barockzeit zu: Francesco Corbetta, geboren 1615 in Pavia, veröffentlichte mit 24 Jahren seine ersten Gitarren- kompositionen. Nach ausgiebigen Konzertreisen durch ganz Europa wirkte er zunächst am Hofe Ludwigs XIV. in Paris. Dort kam er in Kontakt zu Charles II., der in Frankreich im Exil lebte und die Gitarre sehr geschätzt haben soll.
Nach seiner Krönung, der Wiederherstellung des englischen Hofes und der Rückkehr der Königs ging auch Corbetta nach England, ohne aber den engen Kontakt zum Hof der Könige von Frankreich abreißen zu lassen. Ludwig gestattete es dem Virtuosen, eine Sammlung mit seinen Werken zu veröffentlichen - und sie dem König von England zu widmen. Sämtliche Stücke Corbettas, die Conte für diese CD einge- spielt hat, entstammen La Guitarre Royale (1671).
Drei Jahre später legte der Gitarrist ein weiteres Werk mit demselben Titel vor - dieses allerdings war dem Sonnenkönig gewidmet, desses Gitarrenlehrer Corbetta war. Als er 1681 in Paris starb, erhielt Robert de Visée dieses Amt. In seinem ersten Buch, dem Livre de Guitarra (1682), erweist dieser seinem Vorgänger mit einer Allemande Tombeau de Monsieur Francisque musikalische Reverenz. Auch dieses Werk, dem ein Prélude vorangestellt ist, hat Conte für die vorliegende CD ausgewählt.
Une larme ist rundum gelungen. Wer schöne Musik hören will, der wird von betörenden Klängen verzaubert. Und wer sich für Barock- gitarre interessiert, der kann hier erfahren, was mit einem solchen Instrument alles anzufangen ist - wenn man es virtuos spielen kann. So reizt Corbetta beispielsweise im Tombeau de Madame D'Orleans die technischen Möglichkeiten der Gitarre in faszinierender Art und Weise aus und lässt so ganz erstaunliche Klangwelten entstehen. Das ist grandios, das muss man einfach gehört haben.
Conte  erfasst die Stücke aus jener fernen Zeit nicht nur vom Noten- bild her, sondern auch in ihrem Geist. "Die Musik Corbettas vereint Zartheit des Stils, große Kenntnis des Instruments und Tiefe der Sprache; in dieser Musik schwingt stets auf dem Grunde die Stille mit in den zarten Klängen der Gitarre - Klänge, mit denen die Stille einen immerwährenden Dialog führt", schreibt der Gitarrist. "Nach dem Ende der letzten Note erobert sie sich ihren Platz zurück, ganz so wie es der Tod mit unserem Leben macht."

Witt: Symphony in C major "Jena" - Flute Concerto in G major (Naxos)

Auch Friedrich Witt würde heute im Konzertleben keine Rolle mehr spielen, hätte man nicht seine Sinfonie in C-Dur zunächst irrtüm- lich für ein Werk des jungen Beethoven gehalten. 1909 hatte Fritz Stein, Musikdirektor der Universität Jena, im Notenarchiv das komplette Aufführungs- material dieses Werkes entdeckt. Das Titelblatt fehlte. Auf einer Stimme war zu lesen "par Louis von Beethoven", auf einer anderen stand "Symphonie von Beethoven" - und der Komponist selber hatte einmal geäußert, dass er sich in jungen Jahren an einer Sinfonie in C-Dur nach dem Vorbild der Nr. 97 von Haydn versucht habe.
Später klärte sich freilich der Sachverhalt, und der Autor des Werkes steht mittlerweile zweifelsfrei fest: Friedrich Witt, geboren 1770 im württembergischen Niederstetten, hatte sein erstes Engagement als Cellist in der Kapelle des Fürsten von Oettingen-Wallerstein. Dort erhielt er Kompositionsunterricht vom Hofkapellmeister Anton Rösler, bekannter als Antonio Rosetti. Haydn selbst übersandte dem Fürsten einige seiner Londoner Sinfonien - womit auch die Herkunft der Inspirationsquelle geklärt wäre. 
1793 ging Witt auf Konzertreisen; 1802 übernahm er die Leitung der Fürstbischöflichen Kapelle in Würzburg. Nach ihrer Auflösung 1814 wurde er Kapellmeister am Würzburger Theater, für das er wohl auch etliche Opern schrieb. Witt komponierte zudem 23 Sinfonien, einige Messen, diverse Konzerte, Harmonie- und Kammermusik. 1836 starb er in Würzburg. 
Die vorliegende CD enthält neben der "Jenaer" Sinfonie eine weitere Sinfonie in A-Dur sowie das Flötenkonzert in G-Dur, op. 8. Es ist kein Wunder, dass die C-Dur-Sinfonie gut 50 Jahre lang für ein Werk des jungen Beethoven gehalten wurde. Denn genau so klingt sie - auf dem Wege zwischen Haydn und den späteren Werken des Wiener Kompo- nisten; formbewusst, geistreich und schwungvoll. Außerordentlich anspruchsvoll, aber auch sehr lohnenswert ist das Flötenkonzert. Es wird in dieser Aufnahme von Patrick Gallois gespielt, einem Schüler von Jean-Pierre Rampal, der auch dirigiert - in diesem Falle das Orchester Sinfonia Finlandia Jyväskylä, dessen künstlerischer Leiter er seit 2003 ist. Musiziert wird auf hohem Niveau, sehr differenziert, beinahe kammermusikalisch. Bravi!

Sonntag, 22. August 2010

Ries: Piano Sonatas and Sonatinas 3 (Naxos)

Und weil wir gerade bei Ries waren - auch die Klaviersonaten und -sonatinen des Beethoven-Schülers stellt Naxos derzeit in einer Folge von Aufnahmen vor. CD 3 enthält die Sonate in C-Dur op. 9 Nr. 2, und die Sonate fis-Moll "L'infor- tunée" op. 26 sowie The Dream op. 49, gespielt von Susan Kagan. Sie ist nicht nur Pianistin, sondern auch Musikwissenschaftlerin, und hat sich mit der Beethoven-Zeit, wie man hören kann, ausgiebig beschäftigt. 
Diese Klaviersonaten entstanden zu einer Zeit, da sich sowohl das Instrument als auch die Gattung rapide entwickelte. Im Ausgang standen Haydn und Mozart, dann folgten Beethoven, Clementi, Hummel - und schließlich Schubert, Schumann, Mendelssohn und Chopin. Wie ein Wetterleuchten am Horizont klingen insbesondere jene kühnen harmonischen Wendungen an, die Schuberts Marken- zeichen werden sollten, und brillante Figurationen ähnlich denen, die typisch für Chopin waren. Der spielte übrigens nachweislich 1823 ein Konzert von Ferdinand Ries - und studierte bis 1829. Die Romantiker steckten, als Ries die meisten seiner Sonaten schrieb, buchstäblich noch in den Windeln.
Ries Werke sind originell, sie sprudeln vor musikalischen Ideen, und die Unglückliche erscheint wie eine Antwort auf Beethovens Pathétique. The Dream erzählt sogar eine musikalische Geschichte. Kagan zeigt in ihrer Interpretation so manchen Querverweis auf; das macht die Einspielung ganz besonders interessant.

Ries: Sonate sentimentale (Naxos)

Auch Ferdinand Ries gehört zu jenen Musikern, deren Werke aus dem Musikleben verschwunden sind. Das ist in diesem Falle nicht recht verständlich. Denn seine Werke haben Format - und genug Charme, jedes Publikum zu be- zaubern.
Ferdinand Ries, geboren 1784 in Bonn, hat eine erstklassige Aus- bildung genossen. Sein Vater Franz Anton hatte einst dem vierzehn- jährigen Beethoven Violinunter- richt erteilt - und dieser wiederum nahm Ries junior als Pianisten-Azubi an. Der junge Mann unterstützte Beethoven als Sekretär und Kopist, und er wurde außerdem im Fach Komposition durch dessen früheren Lehrer Johann Georg Albrechtsberger unterwiesen. 1804 gab Ries sein Debüt in Wien mit Beethovens Klavierkonzert c-Moll op. 37 - mit eigenen Kadenzen. 
Nach ausgedehnten Konzertreisen ließ er sich in London nieder, wo er als Virtuose, Pädagoge und Komponist sehr erfolgreich war. 1824 kehrte er ins Rheinland zurück, und engagierte sich im bürgerlichen Konzertwesen; so leitete er sieben Mal das Niederrheinische Musik- fest. Die Leitung eines großen Orchesters zu übernehmen, war ihm nicht mehr vergönnt - 1838 starb er in Frankfurt/Main. Ries hat acht Sinfonien geschrieben, sowie zahlreiche Werke für Klavier und für die Kammermusik. 
Seine Werke für Flöte zeigen ihn als einen handwerklich versierten und zudem einfallsreichen Komponisten. Seine Themen sind attrak- tiv, die harmonische Gestaltung dieser Stücke ist abwechslungsreich, und bei all dem verliert er nie den zahlenden Kunden aus dem Blick: Seine Flötenpartie klingt gut - und ist dennoch bei aller Brillanz für einen fortgeschrittenen Amateur spielbar. Das Klavier hat teilweise wohl einen anspruchsvolleren Part; hier sah Ries möglicherweise mehr Ausdrucksmöglichkeiten, und hat sie genutzt. Uwe Grodd, Flöte, und Matteo Napoli, Klavier, haben diese hübschen Stücke für Naxos eingespielt - eine Aufnahme, die gute Laune verbreitet, vom ersten bis zum letzten Ton klangschön und farbenreich. 

Bonjour Paris - Albrecht Mayer (Decca)

In ihrem "Geburtsland" Frankreich war die Oboe als Soloinstrument bald nach Jean-Baptiste Lully und Nicholas Chédeville seltsamer- weise wenig gefragt. Zwar kompo- nierten Camille Saint-Saens und Francis Poulenc für Oboe. Doch weder Debussy, Fauré noch Ravel haben für das Blasinstrument ein Konzert oder wenigstens ein bedeutendes Kammermusikwerk geschrieben.
Albrecht Mayer, der Frankreich sehr zugetan ist und immerhin auch bei Maurice Bourgue studiert hat, fand diese Repertoirelücken schmerzlich - und schloss sie in bewährter Art und Weise: Für seine musikalische Huldigung an das Nachbarland ließ er berühmte Melo- dien für Oboe und Orchester arrangieren, wie Saties Gymnopédies und Debussys Clair de lune. Dass es sich dabei ursprünglich um Klavierstücke handelt, nimmt der Hörer staunend zur Kenntnis. Durch diese Bearbeitungen voll Poesie, musiziert mit dem für Mayer charakteristischen singenden, runden und warmen Oboenton, wird er daran aber nicht unbedingt erinnert. 
Mayer ist ohne Zweifel einer der besten Oboisten seiner Generation. Das kitschige Cover mit Blick über die Dächer der Musikmetropole an der Seine übersieht man ganz schnell. Denn Mayer bringt beispiels- weise Pavane und Sicilienne von Gabriel Fauré sanft zum Schweben und Tanzen. Und natürlich darf die Pavane pour une infante défunte von Maurice Ravel nicht fehlen - mit besten Grüßen an die Zwölf Cellisten, seine Kollegen bei den Berliner Philharmonikern, die erst vor kurzem ein ähnliches Album präsentiert haben.
Mayer verwandelt ein Lied von Reynaldo Hahn, Professor für Gesang an der École normale de musique de Paris sowie Direktor der Pariser Oper, in ein zauberhaftes Chanson ohne Worte. Er spielt aber auch einige Originalkompositionen, wie das Oboenkonzert L’horloge de Flore von Jean Françaix, das er schon öfter im Konzert vorgestellt hat. Als Weltersteinspielung erklingt Été, das der Schweizer Kompo- nist Gotthard Odermatt eigens für den Oboisten geschrieben hat - ein wundervolles, federleicht dahingetupftes Stück, das wie die akustische Version eines sonnendurchglühten impressionistischen Gemäldes erscheint. Traumhaft!


Samstag, 21. August 2010

Goepfert: 3 Clarinet Concerts (cpo)

Andreas Goepfert, geboren 1768 in Rimpur bei Würzburg, gehört zur großen Schar jener Musiker, die fleißig und auch tüchtig waren, aber dennoch nicht die Aufmerk- samkeit des breiten Publikums auf sich und ihr Werk lenken konnten.
Goepfert erhielt in Würzburg eine solide musikalische Ausbildung, insbesondere auf der Klarinette - und anschließend, wohl auf Empfehlung seines Lehrers Philipp Meissner, eine Anstellung als Hof- musiker und Erster Klarinettist in Meiningen. 1793 wurde er zum Cammermusicus ernannt.
Glücklich ist er dort nicht geworden. Denn die kleine Residenz erwies sich als Gefängnis. Goepfert muss sich regelmäßig um Urlaub bemüht haben, um sich musikalisch weiterzubilden. Er wäre gern Schüler Mozarts geworden; doch selbst nach Mozarts Tod durfte er einem Ruf aus Wien nicht folgen - die Dienstherrschaft ließ ihn nicht, Punktum. 
Goepferts Gesundheitszustand verschlechterte sich. Bald wird er nicht mehr als Bläser benannt, sondern nur noch als Komponist. Als er 1818 starb, waren seine Vermögensverhältnisse so miserabel, dass seine Witwe sich selbst und zwei Kinder durch den Verkauf von Trockenfisch und Tabakwaren durchbringen musste.
Diese CD stellt seine Klarinettenkonzerte op. 35 in Es-Dur, op. 20 in B-Dur und op. 14 in Es-Dur vor. Es sind typische Werke des Virtuosenzeitalters - ganz auf den Solisten zugeschnitten, dessen Part in den schnellen Sätzen möglichst effektvoll und in den langsamen Sätzen klangschön sanglich-beseelt gestaltet wurde, flankiert von einer mal mehr, mal weniger gelungenen Orchesterbegleitung. Das hat schöne Stellen, aber auch einige Ecken und Kanten, die dem Hörer weniger gelungen erscheinen. 
Ähnliches lässt sich auch von dieser Aufnahme sagen. Klöcker, Professor für Klarinette und Bläserkammermusik an der Staatlichen Hochschule für Musik in Freiburg/Br., spielt sehr solide, aber nicht überragend. Das gilt ebenso für die Jenaer Philharmonie, Thüringens größtes Konzertorchester, das hier von Johannes Moesus geleitet wird.

Freitag, 20. August 2010

Johann Christoph Friedrich Bach: Sinfonien (Naxos)

Johann Christoph Friedrich Bach? Welcher der Bach-Söhne ist denn das?? Nachschlagen bei Forkel ergibt, dass Wilhelm Friedemann Bach jedenfalls seinen Halbbruder für den "stärksten Spieler" unter den vier musizierenden Brüdern hielt, der "seines Vaters Clavier- kompositionen am fertigsten vorgetragen" habe.
Zur Jahreswende 1749/50 trat der gerade Achtzehnjährige als „Hoch- gräflich Schaumburg-Lippischer Cammer-Musicus“ in den Dienst von Graf Wilhelm Friedrich Ernst zu Schaumburg-Lippe. 1759 wurde er zum Hofkapellmeister ernannt. Am Hof in Bückeburg blieb er bis zu seinem Tode 1795 - von einer einzigen Reise 1778 abgesehen, die ihn zu seinem Bruder Johann Christian nach London führte, mitten hinein in die dortige Konzertsaison. Aus der Musikmetropole brachte er, so wird berichtet, jede Menge Noten mit, Ideen für seine Arbeit - und einen hochmodernen Hammerflügel. 
Der Hof zu Bückeburg dürfte davon profitiert haben. Nicht umsonst galt die Kapelle seines musikliebenden Dienstherrn als eine der besten in Deutschland. Das Musikleben dürfte dem entsprochen haben. Wie viel Johann Christoph Friedrich Bach wirklich komponiert hat, wird sich heute jedoch kaum noch herausfinden lassen; ein erheblicher Teil seiner Werke ging wohl im Zweiten Weltkrieg verloren. Das ist in der Tat ein Verlust, wie diese CD belegt. 
Denn die drei von insgesamt acht erhaltenen Sinfonien aus seiner Feder, die das Leipziger Kammerorchester unter Morten Schuldt-Jensen hier eingespielt hat, erweisen sich als überaus interessante Werke, zu verorten irgendwo zwischen Barock und Klassik. Sie sind handwerklich in jeder Hinsicht geschliffen, und atmen Geist und Witz - ganz besonders die letzte, die Sinfonie B-Dur HW 1/20. Das Leipziger Kammerorchester, das aus Musikern des Gewandhausorchesters besteht, hat hörbar Vergnügen an dieser charmanten Musik. Diese CD ist in jeder Hinsicht eine Entdeckung!

Donnerstag, 19. August 2010

Tartini: 3 Violin Concertos (Pentatone Classics)

Giuseppe Tartini hat nahezu aus- schließlich Werke für sein Instru- ment komponiert - die Violine, für die er mehr als 200 Sonaten schrieb, und über 125 Konzerte. Drei davon enthält diese Super Audio CD - die Violinkonzerte in A-Dur, D.96, in B-Dur, D.117 und in G-Dur, D.78. "Per bon sonare, bisogna bon cantare", soll Tartini einst gesagt haben - um gut zu klingen, muss man gut singen. 
Das fiel Salvatore Accardo nicht schwer, der diese Aufnahme 1973 mit den I Musici eingespielt hat. Sie ist wirklich zauberhaft, und deshalb ist es sehr erfreulich, dass Pentatone Classics sie jetzt  wieder zugänglich macht - zumal sie obendrein perfekt Quadro-remastered wurde. Hörvergnügen garantiert!

Brahms: Händel-Variationen, Walzer, Rhapsodien; Ragna Schirmer (Berlin Classics)

"128 Jahre nachdem Georg Fried- rich Händel seine B-Dur Suite für Cembalo veröffentlicht hatte, entdeckte Johannes Brahms die ,Aria' aus eben jener Suite und formte mit 25 Variationen und einer großen Fuge über dieses Thema einen Kosmos romanti- scher Klavierkunst, der in der Literatur seinesgleichen sucht", schreibt Ragna Schirmer. "Da mir persönlich die Händel-Aria auch sehr am Herzen liegt, reizte es mich, wiederum 148 Jahre später intensiv an diesem großen Werk von Johannes Brahms zu arbeiten." Um das Bild abzurunden, hat die Pianistin die Variationen über ein Thema von Händel op. 24 mit den 16 Walzern op. 39 und den Zwei Rhapsodien op. 79 kombiniert.
"Ich habe eine eigene Liebhaberei für die Form der Variation und meine, diese Form könnten wir wohl mit unserem Talent und unsrer Kraft noch zwingen", schrieb Brahms 1879 an einen Freund. Selbst Wagner, der Brahms nicht unbedingt wohlgesonnen war, musste einräumen, nachdem er das Werk 1863 in Wien gehört hatte: "Hier sieht man, was noch in den alten Formen geleistet werden kann, wenn einer kommt, der sie zu gebrauchen weiß." 
Ragna Schirmer spielt die Variationen nah am Thema Händels. Sie vermeidet pianistische Effekthaschereien, und stellt ausschließlich die musikalische Struktur in den Mittelpunkt. Damit macht sie deut- lich, wie fein die Textur dieses Werkes ist, und mit welcher Sorgfalt es gearbeitet wurde. Dass sie durchaus auch der romantischen großen Geste gewachsen ist, zeigt sie in den beiden Rhapsodien. Dabei handelt es sich um äußerst anspruchsvolle, aber auch ansprechende Werke, die für den Konzertsaal geschrieben sind - vollgriffig, aber dennoch raffiniert und von unglaublicher Intensität.
Mit Delikatesse hingegen behandelt Schirmer die Walzer - ein Tribut des gebürtigen Hamburgers an seine Wahlheimat Wien. Sie waren für die gutbürgerliche Hausmusik bestimmt, und erschienen in einer vier- und einer zweihändigen Fassung. "Die Walzer sind entzückend und berührend schlicht und edel gehalten", schreibt die Pianistin. "Da in der zweihändigen Fassung gegenüber der vierhändigen einige Begleitfiguren fehlen, habe ich diese an manchen Stellen ergänzt." Auch hier nimmt sich Ragna Schirmer zurück, und lässt das Werk wirken - doch nicht gänzlich ohne Augenzwinkern. Diese Walzer laden nicht zum Tanz, sie erscheinen eher als musikalische Albumblätter - poetisch, farbenreich, teils leidenschaftlich, teils besinnlich. Schirmer gestaltet überlegen - eine CD, die zum Nachspüren und Genießen einlädt.

Sonntag, 15. August 2010

Cradle of Conceits (Carpe diem)

Wer eine richtig schöne Lauten-CD hören möchte, dem sei "Cradle of Conceits" wärmstens empfohlen. Lee Santana hat eigentlich klassi- sche Gitarre studiert, sich dann aber zunehmend der sogenannten "Alten" Musik zugewandt - und dem Lautenspiel verschrieben. Seit 1984 lebt und arbeitet der Ameri- kaner als freiberuflicher Lautenist und Komponist in Deutschland.
 Die vorliegende CD ist das Ergeb- nis seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Anthony Holbornes (um 1545 bis 1602). Eingespielt hat er sie in der kleinen mittelalterlichen Feldsteinkirche St. Firminus in  Dötlingen, Landkreis Oldenburg. 
Dabei legte er einerseits viel Wert auf Authentizität. Er verwendet eine Renaissancelaute von Knut Sint, eine Diskantlaute von Matthias Wagner und Basslaute von Renatus Lechner, sämtlich mit Darmsaiten bespannt. Es erklingen zudem ein Kleines Zitterlein des Meißner Gitarrenbauers Steffen Milbradt sowie Bandora und Zister von Peter Forrester. Die Zistern sind mit Metallsaiten versehen, und die Bando- ra mit Bronzesaiten aus spezieller, historischer Legierung. All seine Instrumente sind mitteltönig gestimmt, was zu dieser Musik wunder- bar passt.
Es steht andererseits zu vermuten, dass sich Lee Santana bei der Interpretation von Holbornes Werken einige Freiheiten genommen hat. Denn diese Einspielung ist erklärtermaßen auch seine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Musik und dem Geist des elisabethanischen Zeitalters. So vermittelt der Lautenist mit seinem Spiel eine Ahnung von der klanglichen Vielfalt, der Verspieltheit und musikalischen Variabilität der damaligen Tanz- und Hofmusik. Diese CD führt nicht ins Museum, sondern sie zeigt eine höchst lebendige, stimmungsvolle und mitunter auch launige Auffassung von Lauten- musik. Bravo!  

Bach: Minor Music - Wolfgang Dimetrik (Gramola)

Das Akkordeon wird gern als Schifferklavier belächelt - und offenbar leiden die Virtuosen an diesem Instrument unter dem proletarischen Ruf, der damit verbunden ist.
Anders ist es kaum zu erklären, dass gerade in jüngster Vergan- genheit etliche Akkordeonisten Werke Johann Sebastian Bachs eingespielt haben - über den Beethoven einst gesagt haben soll: "Nicht Bach, Meer sollte er heißen." Bach ist, zumal in Deutschland, für etliche Musiker wie für einen nicht geringen Teil des Publikums der Inbegriff höchster Kunst, Reinheit und Vollendung.
Sich dieser Tiefe zu nähern, das birgt freilich auch das Risiko des Scheiterns. Wolfgang Dimetrik wählte für seine Annäherung an Bach die Englischen Suiten BWV 807, 808 und 810. Da sie ursprünglich für Cembalo komponiert wurden, und keine Version speziell für sein Instrument existiert, hat er sich die Stücke anhand der Urtext-Aus- gabe erarbeitet, wie das Beiheft mitteilt.
Änderungen des Notentextes scheinen für das Akkordeon kaum erforderlich gewesen zu sein; mir jedenfalls erscheinen die Abwei- chungen minimal. Und Dimetrik beherrscht sein Instrument in der Tat virtuos. Dennoch vermag das Ergebnis nicht zu überzeugen; die Klangfarben, die das Akkordeon einbringt, bereichern diese Werke Bachs nicht wirklich. Auch bei wiederholtem Hören will mir diese CD nicht gefallen - tut mir leid, aber ich kann diese Aufnahme nicht empfehlen.

Mozart: Piano Concertos 24 - 27; de Larrocha / Solti (Decca)

Was für eine zauberhafte Aufnah- me!  Kaum zu glauben, dass Alicia de Larrocha und Sir Georg Solti
die Aufzeichnungen der beiden Klavierkonzerte K491 und K537, eingespielt 1985 mit dem Chamber Orchestra of Europe, aufgrund akustischer Probleme zunächst verworfen haben. Dank Nachbearbeitung ist von diesen Mängeln nichts mehr zu spüren. Auch die Klavierkonzerte K503 und K595, aufgezeichnet 1977 mit dem London Philharmonic Orchestra, geben Zeugnis einer Musizierkultur, die das Werk in den Mittelpunkt stellt - und nicht den Star. 
Alicia de Larrocha lässt den Flügel singen. Sie hat ein sagenhaftes Gespür für Phrasierung und für Klangfarben. Sie gestaltet sicher und selbstbewusst, hat aber auch kein Problem damit, aus der Solopartie nach dem Ende einer Passage wieder in das Orchester zurückzutreten. Solti wiederum führt die Musiker im fortwährenden Dialog mit der Solistin. Das macht insbesondere die langsamen Sätze zu reinem Hörgenuss. Derart subtil und liebevoll habe ich Mozarts Klavier- konzerte Nummer 24 bis 27 noch nie spielen hören. Eine Aufnahme voll Poesie - um diese Musik zu beschreiben, sind alle Superlative zu schwach. 

Sonntag, 8. August 2010

Burst forth, my tears - The Music of John Dowland (Naxos)

John Dowland (1563 bis 1626) war ohne Zweifel einer der besten Lautenisten des 16. Jahrhunderts. Dennoch ist es ihm zunächst nicht gelungen, in London bei Hofe unterzukommen. So zog er durch Europa. Er spielte beispielsweise am Hof Heinrich Julius', Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, und vor Landgraf Moritz von Hessen in Kassel. Dann reiste er nach Italien weiter. Und nachdem er sich erneut in London erfolglos um die Anstellung als Hoflautenist beworben hatte, ging Dowland nach Dänemark, wo er bis 1606 acht Jahre lang als Lautenist am Hof König Christians IV. von Dänemark tätig war. Erst 1612 erhielt er den begehrten Posten als Musician for the lute am englischen Königshof. 
Mehr als 80 Lautenlieder Dowlands, über hundert Werke für Laute solo sowie grandiose Musik für Gambenconsort mit Lautenbegleitung sind überliefert.37 dieser Werke hat Naxos für diese CD ausgewählt. Sie beginnt gleich mit einem seiner berühmtesten Werke - der Lachri- mae Pavan; bekannt auch in ihrer Vokalversion als Flow my teares, und in Form von Variationen für Gambenconsort. Auf dieser CD wird sie zweimal von der Laute vorgetragen. Die Lautenmusik, zumeist Tänze, spielt mit einer Ausnahme Nigel North. Greensleeves Divisions spielt Dorothy Linell. Außerdem ist der Lautenist Jacob Heringman zu hören; er musiziert mit dem The Rose Consort of Viols sowie der Mezzosopranistin Catherine King.
Mir haben die Consort-Stücke am besten gefallen; hier wird sehr elegant musiziert. King hat eine wenig charakteristische, schlanke und auch kleine Stimme, wie man sie in barockem Repertoire häufig hört. Die Lautenisten musizieren sauber und solide, aber auch brav und ein wenig langweilig. Ein bisschen Leidenschaft und augenzwinkernde Theatralik aber dürfte bei Dowland schon sein. Melancholie jedenfalls strahlt diese Doppel-CD nicht aus. Schade.

Bach: The Six Sonatas & Partitas for Violin; Baráti (Berlin Classics)

"Die Aufführungspraxis von Ba- rockmusik hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts enorm ent- wickelt. Das Spektrum ist sehr breit", meint Kristóf Baráti; "es erstreckt sich von einer sehr romantischen, intuitiv freien und selbstbezüglichen Herangehens- weise bis hin zur ,historischen', aber nach meinem Dafürhalten manchmal doch dogmatischen und häufig unflexiblen Rezeption. Junge Musiker können heute frei wählen, was aber äußerst schwierig ist, zumal ihre Wahl im Ergebnis eine ausgereifte Über- zeugung reflektieren muss, wenn sie auch ein Publikum überzeugen will."
Baráti, geboren in Budapest, aufgewachsen in Caracas, ausgebildet in der Tradition der russischen Violinschule, konzentriert sich in der vorliegenden Studio-Einspielung darauf, die emotionalen und struk- turellen Zusammenhänge, die er beim Studium von Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo aufgespürt hat, aufzuzeigen: "Mein wichtigstes Anliegen war es, moderne Technik und den farbigen, vollen Klang, wie er meinem Geschmack entspricht, mit der Frische und logischen Struktur einer historischen Interpretation in Einklang zu bringen." Da klingt nichts glatt, kalt und gefällig; schon nach weni- gen Takten lauscht man fasziniert dieser kantablen, beseelten, aber auch eigenwilligen und kantigen Musik. 
Das Wagnis, ein so oft eingespieltes Werk ein weiteres Mal aufzuneh- men, hat sich in diesem Falle gelohnt. Denn der junge ungarische Geiger hat einen ganz eigenen Zugang zu Bachs musikalischen Welten gefunden. Baráti, der die Stradivari "Lady Harmsworth" aus dem Jahre 1703 spielt, gelingt es, Emotion und Analyse gleichermaßen Raum zu geben. Er spielt, als ginge es um sein Leben - und überzeugt damit. Es würde mich nicht wundern, wenn er für diese beiden CD erneut mit Preisen überhäuft würde.

Messner: Salzburger Suite (Oehms Classics)

Joseph Messner, geboren 1893 in der Tiroler Bergwerksstadt Schwaz, begeisterte sich schon in früher Jugend für die Orgel. So kam es, dass das Arbeiterkind 1921 Dom- organist und 1926 Domkapell- meister zu Salzburg wurde. Diese Position hatte Messner bis zu seinem Tode 1969 inne. Wie ange- sehen er war, verdeutlicht vielleicht am besten die Tatsache, dass Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal eigens für ihn 1927 die Domkonzerte der Salzburger Festspiele einrichteten. 1944 beobachtete Messner die Zerstörung des Salzburger Doms aus nächster Nähe - er saß an der Orgel, als die Bomben fielen, und verarbeitet dieses Erlebnis lautmalerisch in einer Messe.
Musikalisch gilt Messner als Erbe Bruckners; kurioserweise hat er selbst nur wenig Orgelmusik schriftlich fixiert. Ansonsten war er als Komponist außerordentlich produktiv; er schuf unter anderem vier Opern, zwölf Messen, 400 Motetten, drei Sinfonien und eine Reihe von Fanfaren - unter anderem die Salzburger Festspielfanfare
op. 55/1, die jahrelang alle Übertragungen vom Festspielgeschehen einrahmte. 
Sie eröffnet auch die vorliegende CD, und dann erklingen die Salz- burger Suite op. 51 sowie das Rondo giocoso für Orchester op. 54. Zum Abschluss spielt das Mozarteum Orchester Salzburg unter Ivor Bolton dann noch die Große Mozart-Fanfare op. 55/4. 
Die Salzburger Suite erweist sich als Programmmusik, die fünf lokale Sehenswürdigkeiten vorstellt. Dabei zitiert Messner auch fünf Musik- stücke, und spannt so in einem Werk den Bogen von einem Salzburger Heimatlied bis hin zu Mozarts Ave verum corpus - Humor zumindest ist dem Mann nicht abzusprechen. Auch wird der Hörer feststellen, dass die Musik Messners in ganz erstaunlichem Maße durch die Orgel geprägt ist. Die Fanfaren beispielsweise könnte man sich durchaus auch mit den entsprechenden Registern auf diesem Instrument gespielt vorstellen. Es ist lobenswert, dass Oehms Classics mit dieser Aufnahme an Messner erinnert. Sie ist musikalisch sehr gelungen, und die Musik ist es auch wert. 

Samstag, 7. August 2010

Schubert: Sonata in A major; Schumann: Faschingsschwank (Audite)

1838/39, als Robert Schumann in Wien lebte, war Franz Schubert bereits so sehr Vergangenheit, dass sein Schaffen nahezu ver- gessen war. Es war Schumann, der bei Schuberts Bruder Ferdinand die C-Dur-Sinfonie des Komponi- sten aufstöberte, und die Entdek- kung an seinen Freund, den Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy, weiter- reichte. Dieser sorgte für die Uraufführung dieses Werkes in Leipzig - ein Musikereignis, das den Blick der Musikwelt auch auf andere Stücke Schuberts lenkte.
Schumann selbst interessierte sich für Schuberts Umgang mit der Sonatenform. In seiner Wiener Zeit schuf er eine "große romantische Sonate", die er dann 1839 in Leipzig mit einem rasanten Finale kom- plettierte, und Faschingsschwank aus Wien nannte.
Hisako Kawamura spielt diese Fantasiebilder op. 26 zupackend, geradlinig und kraftvoll. Einen ähnlichen Zugriff versucht sie auch bei Schuberts Sonate A-Dur, D 959, die der Komponist Johann Nepomuk Hummel gewidmet hatte. Sie hat mit den Klaviersonaten eines Beet- hoven nur mehr den Namen gemeinsam; die klassische Form, der ganze schöne, sorgsam austarierte Sonatenhauptsatz liegt längst in Trümmern. 
Schubert nimmt einzelne Bruchstücke, wie um sie ungläubig zu bestaunen und zu kommentieren. Und selbst unter dem kecken Ländler vermeint man das Grollen des Basses zu spüren, wie ein Echo jenes Sturmes, der das charmante Andantino ins Chaos stürzen ließ. Hier ist mir die Pianistin zu harmlos, zu unentschieden; ihre Technik ist ohne Zweifel exzellent, aber sie schreckt möglicherweise vor dem Abgrund zurück, den gestalterische Konsequenz hörbar machen würde. Schade.

Bach: Cantatas, Vol. 46 (BIS)

Die vier Kantaten auf dieser Super Audio-CD entstanden in der zweiten Jahreshälfte 1726. Musik- wissenschaftler haben festgestellt, dass Bach damals die Musik für die sonntäglichen Kantatenaufführun- gen nicht mehr durchweg selbst geschrieben hat, sondern auch auf Werke anderer Komponisten zurückgriff.
So erklangen vom Februar bis September 1726 nachgewiesener- maßen auch 18 Kantaten des Mei- ninger Hofkapellmeisters Johann Ludwig Bach, eines entfernten Verwandten. Ob Bach dadurch ent- lastet worden ist, so dass er sich intensiver mit eigenen Projekten beschäftigen konnte, darüber können wir heute nur spekulieren.
Erkennbar ist aber, dass sich seine Kantaten verändert haben. Ins- besondere die Eingangschöre haben an Gewicht gewonnen; und die musikalische Konzeption der Kantaten erscheint durchgängig, wie aus einem Guss. So stellt Bach die wesentlichen Themen der Kantate Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben BWV 102 schon in der instru- mentalen Einleitung vor. Der Eingangschor der Kantate Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist erweist sich als ebenso faszinierende wie eindrückliche musikalische Predigt. In Wer Dank opfert, der preiset mich BWV 17 lenkt Bach zunächst den Blick zum Himmel, und dann auf die Endlichkeit irdischen Strebens. 
Es erhub sich ein Streit BWV 19 zeigt den Kampf des Erzengels Michael gegen den Teufel als wilde Schlacht, ein martialisches Geschehen, begleitet von Pauken und Trompeten, die auch den Sieg dann in festlichem Glanz feiern. Der Hörer darf sich freuen, denn diese Einspielung überzeugt vom ersten bis zum letzten Ton. Sie beruht auf sorgfältigem Studium der Quellen - aber letztendlich begeistert das ausdrucksstarke Musizieren des Bach Collegiums Japan unter seinem Leiter Masaaki Suzuki.
Die Solisten Hana Blaziková (Sopran), Robin Blaze (Alto), Gerd Türk (Tenor) und Peter Kooij (Bass) singen ebenso wundervoll wie der ganze schlank besetzte Chor, in den sie nach ihren Soli jeweils wieder zurücktreten. So hat man diese Kantaten noch nicht gehört; das ist definitiv die beste Aufnahme, die derzeit erhältlich ist. Phantastisch!

Donnerstag, 5. August 2010

Korsakova: Opera Fantasies (Solo Musica)

Natascha Korsakowa entstammt einer Musikerdynastie. Sie ist die Ururgroßnichte von Nikolai Rimskij-Korsakow; ihre Mutter ist die griechische Pianistin Yolantha Miroshnikova, ihr Vater der 1991 verstorbene russische Geiger Andrej Korsakow. 
Sie begann in Alter von fünf Jahren, selbst Violine zu spielen; Unterricht erteilte ihr zunächst ihr Großvater Boris Korsakow, eben- falls erfolgreich als Solist. Nun schreibt sie selbst ein weiteres Kapitel dieser Familiengeschichte; und das gar nicht ungeschickt.
So hat sie für Solo Musica eine sehr CD mit Opernparaphrasen einge- spielt - schöne, eingängige, teilweise auch virtuose Musik. Allerdings hat sie dafür Bearbeitungen ausgesucht, die wohl zu keinem Zeitpunkt die Funktion hatten, für die diese Gattung ursprünglich entstanden war. Denn vor der Erfindung von Schallplatte und Radio war es durchaus üblich, dass schon wenige Tage nach der Premiere einer neuen Oper die "Hits" im Druck erschienen, und vom begeisterten Publikum daheim gespielt wurden. 
Für die gehobene Hausmusik freilich sind die Stücke auf dieser CD wohl zu schwierig; sie sind offenkundig eher als "Virtuosenfutter" in der Tradition der Fantaisie brillante entstanden. Den Rahmen bilden zwei Werke, die sich mit Gershwins Oper Porgy and Bess auseinan- dersetzen. Der russische Geiger Igor Frolow, ein Schüler David Oistrachs, schuf eine Opern-Fantasie ganz im Stil des 19. Jahrhun- derts. Jascha Heifetz bleibt näher am Original, setzt aber dennoch stark auf geigerische Zirzensik. Natascha Korsakowa hat damit technisch keine Probleme; aber das jazzig-schmissige Spiel scheint ihr mehr Vergnügen zu bereiten. 
Von Henri Vieuxtemps stammt eine Fantaisie brillante über Themen aus Verdis Oper Ernani. Antonio Bazzini - Schumann zählte den Geiger seinerzeit "gewiß zu den größten der Gegenwart" - kompo- nierte eine Fantasia über Themen aus Verdis La Traviata. Als Überraschung erweist sich zudem eine Fantasie über Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach aus der Feder von Franz Drdla, einem tschechischen Violinisten. Diese beiden ebenso charmanten wie raffinierten Werke sind für mich die Höhepunkte der CD. Außerordentlich amüsant ist aber auch eine Konzert-Transkription von Mario Castelnuovo-Tedesco, der Rossinis berühmte Figaro-Arie in einen Hexenritt quer durch die Musikgeschichte verwandelt.
Kira Ratner am Piano begleitet perfekt, die beiden Frauen spielen wie aus einem Atem. Wenn die Süddeutsche Zeitung das Spiel der Korsakowa allerdings als "sündhaft schönes Hörerlebnis" bejubelt, dann scheint diese Begeisterung wohl eher auf optischem Wege entstanden zu sein. Die Solistin trägt auf der Bühne ausschließlich Outfits von Laura Biagiotti und ist als "Testimonial" für dieses Modehaus tätig; auch ihre Homepage wimmelt von knackigen Fotos. Nun ist gutes Aussehen ja am Musikmarkt gewiss nicht hinderlich; allerdings würde man sich auch musikalisch über etwas mehr Pfeffer freuen.