Mittwoch, 29. Juli 2020

Weber: Der Freischütz (Oehms Classics)

Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz zählt an jedem deutschen Stadttheater, das auf sich hält, zum Kernrepertoire. Die wichtigste Rolle in diesem Stück hat, die Solisten mögen mir verzeihen, ohne Zweifel der Chor. Vom fröhlichen Treiben beim Schützenfest über den Spuk in der Wolfsschlucht, wo der Schurke Kaspar den Jägerburschen Max dazu verführt, Freikugeln zu gießen, über den berühmten Jägerchor bis hin zum großen Finale – fast immer ist das Volk präsent. 
Regisseurin Tatjana Gürbaca, die dieses Stück 2018/19 auf die Bühne des Aalto-Musiktheaters Essen gebracht hat, treibt dies auf die Spitze, und ersetzt auch den Teufel Samiel durch das Gewisper und Gezischel der Menge: Das Böse ist in uns allen, und es ist quasi als Kopfkino immer dabei. Die Bilder lassen vermuten, dass sie die Oper keineswegs, wie vorgesehen, in einem böhmischen Dorf, "kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges", spielen lässt. 
Für diese Aufnahme ist das egal. Denn ansonsten ist alles wie üblich. Heiko Trinsinger ist ein ebenso stimmgewaltiger wie grimmiger Kaspar, Maximilian Schmitt singt den Max so weinerlich, dass man dem Burschen mitunter am liebsten ein Taschentuch reichen würde. Albrecht Kludszuweit gestaltet mit seinem Gesang den reichen Bauern Kilian so plastisch, dass man die Figur geradezu vor sich sieht. Das lässt sich auch für Karel Martin Ludvik sagen, dessen Erbförster Kuno so beharrlich für die Tradition steht wie eine deutsche Eiche. Seine Tochter Agathe, mit dem strahlenden Sopran von Jessica Muirhead, ist natürlich wohlerzogen, fromm und, in Maßen, naturverbunden. 
In dieser ländlich-sittlichen Idylle wirkt das Ännchen, gesungen von Tamara Banješević, wie die zugereiste Cousine aus der Stadt – wirklich sehr nett und sehr bemüht, aber auch sehr fremd. Das Tableau komplettieren Uta Schwarzkopf und Helga Wachter als Brautjungfern, Martijn Cornet als Fürst Ottokar und Tijl Faveyts als Eremit. 
Viel Farbe und Flair bringen die Essener Philharmoniker unter Leitung von Tomáš Netopil. Doch Chor und Extrachor des Aalto-Theaters erweisen sich letztendlich als Dominante des Geschehens. Ohne Frage: Die Chöre haben Wucht. 

Sonntag, 26. Juli 2020

Franz Liszt - The Sound of Weimar (Gramola)

In Sondershausen, im Dachgeschoss der Landesmusikakademie, gibt es eine kleine Ausstellung. Sie macht deutlich, wie groß die Bedeutung der einstigen Residenz und ihres Orchesters seinerzeit für die europäische Musikwelt war. Und sie rückt vor allem einen Komponisten und Kapellmeister in den Mittelpunkt: Franz Liszt (1811 bis 1886) ist hier nicht als Tastenheros präsent, sondern vor allem als Schöpfer und Interpret von Orchestermusik. 
Im November 1842 wurde der Klaviervirtuose von Großherzog Carl Alexander im nahegelegenen Weimar zum Kapellmeister ernannt. War er zunächst nur sporadisch anwesend, so ließ er sich 1848, gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Caroline zu Sayn-Wittgenstein, dort nieder. Die Jahre in Thüringen waren für den Musiker eine höchst produktive Zeit: In Weimar entstanden viele seiner Kompositionen; Liszt etablierte sich zudem als Dirigent, und er brachte mit dem Orchester in den Hofkonzerten viele Werke von Zeitgenossen zur Aufführung. So unterstützte er Richard Wagner, und er schätzte auch Hector Berlioz sehr. Dieses Engagement beeinflusste aber auch sein eigenes Schaffen. 
Liszt nicht nur als Klaviervirtuosen, sondern auch als Schöpfer von Orchestermusik zu präsentieren, ist das Anliegen der vorliegenden Aufnahmen, die in den Jahren 2010 bis 2017 im Franz Liszt Konzertsaal im burgenländischen Raiding, dem Geburtsort des Musikers, aufgezeichnet worden sind. Martin Haselböck hat mit dem Orchester Wiener Akademie Liszts Orchesterwerke erkundet. Beteiligt waren daran mitunter auch der Chorus sine nomine, Tenor Steve Davislim und der Pianist Gottlieb Wallisch. 
Das Spannende an dieser Aufnahme ist nicht nur ihr beachtlicher Umfang; auf den neun CD findet sich von der Faust-Sinfonie über die kompletten Sinfonischen Dichtungen wie Les Préludes, Hunnenschlacht und Mazeppa bis hin zu den Ungarischen Rhapsodien das komplette Orchesterwerk des Komponisten. 
Musiziert wird in reduzierter Besetzung und auf historischen Instrumenten; so verwenden die Streicher Darmsaiten in Verbindung mit den damals üblichen Bögen. Haselböck nimmt die Partitur ernst, und er vermeidet Pathos. Das Ergebnis beeindruckt. So führen die hellen, klaren Frauenstimmen des Chorus sine nomine, umrankt von allerlei Harfen-Arpeggien und allgemeiner Dreiklangsseligkeit, den Hörer hier nicht in die finsteren Abgründe des Kitsches, sondern in die lichten Weiten des Paradieses. 
Auch bei den Sinfonischen Dichtungen gelingt es Haselböck, deutlich werden zu lassen, wie kühn und neu diese Stücke einst gewesen sein müssen. Manches, was Liszt seinerzeit in Weimar ausprobierte, wie die Arbeit mit Leitmotiven, das haben andere Komponisten wie Richard Wagner und Richard Strauss dann aufgenommen und weitergeführt, vielleicht auch vollendet. 
Der Farbenreichtum und generell der Orchesterklang dieser Aufnahmen dürfte dem einst von Liszt in Weimar erzeugten sehr nahe kommen. Den Musikern des Orchesters Wiener Akademie gelingt aber nicht nur die Rekonstruktion dieses einzigartigen „Sound of Weimar“, sondern zugleich die Rehabilitation des Sinfonikers Franz Liszt. Eine Referenzaufnahme, die seine noch immer unterschätzte Orchestermusik in bestes Licht rückt. Bravi!

Samstag, 18. Juli 2020

Farinelli - Cecilia Bartoli (Decca)

Carlo Broschi (1705 bis 1782), bekannter unter seinem Künstlernamen Farinelli, war ein Superstar des 18. Jahrhunderts. Wo immer er auftrat, geriet das Publikum schier in Ekstase. Die Arien, die Komponisten speziell für ihn geschrieben haben, sind eine Klasse für sich. Schaut man in die Noten, so muss der Kastrat eine unglaubliche Technik, einen sagenhaften Stimmumfang, vor allem auch in der Höhe, und schier endlos Luft zur Verfügung gehabt haben. 
Heute, wo die Musik der Barockoper durch spezialisierte Ensembles allmählich wieder zum Klingen erweckt wird, sind seine Arien noch immer eine Herausforderung für Sängerinnen und Sänger. „Farinelli hatte eine durchdringende, voll, satte, helle und wohlmodulierte Sopranstimme“, so schrieb einst der Flötist Johann Joachim Quantz. „Passagenwerk und allerhand Melismen stellte keine Schwierigkeit für ihn dar. Sein Einfallsreichtum bei der freien Verzierung von Adagios war stets ausgesprochen ergiebig.“ 
Farinelli und seiner Gesangskunst widmet Cecilia Bartoli ihr neues Album. Die Koloratur-Mezzosopranistin hat sich barocker Musik seit vielen Jahren verschrieben. Gemeinsam mit dem Ensemble Il Giardino Armonico unter Leitung von Giovanni Antonini hat sie für diese Einspielung ein ebenso abwechslungsreiches wie anspruchsvolles Programm zusammengestellt, das auch zwei Weltersteinspielungen enthält. Um den berühmten Kollegen zu ehren, zieht Cecilia Bartoli alle Register ihres Könnens. In ihrem Gesang kombiniert sie Virtuosität mit emotionaler Unmittelbarkeit, und die Reife ihrer Stimme unterstreicht den starken Ausdruck eher noch. Beeindruckend! 

Freitag, 17. Juli 2020

Ridil: Solo Songs and Works for Male Choir (Genuin)

Christian Ridil? Die Tatsache, dass die Camerata Musica Limburg seinem Schaffen eine komplette CD gewidmet haben, macht neugierig. Denn Werke zeitgenössischer Komponisten, zumal wenn es sich um Vokalmusik handelt, gelangen ohnehin nur höchst selten per Silberscheibe zum Publikum. Was also macht die Liedsätze von Christian Ridil so besonders? 
Seine musikalische Laufbahn startete Ridil, Jahrgang 1943, bei den Regensburger Domspatzen. Nach seinem Studium in München und Augsburg wirkte er etliche Jahre als Gymnasiallehrer, und wurde dann Hochschullehrer und Universitätsmusikdirektor an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Im Jahre 2011 wurde er emeritiert. 
Für sein umfangreiches kompositorisches Schaffen wurde Christian Ridil vielfach ausgezeichnet, und seine Werke werden von Chören gern gesungen. Das gilt auch für die Camerata Musica Limburg, die seine Kompositionen auf dieser CD mit großem Engagement vortragen. Dabei überrascht die enorme stilistische Bandbreite; so erklingen frühe, an der Romantik orientierte Studentenchöre ebenso wie knackige, witzige Volksliedsätze, zur kleinen Volksliedsuite verknüpft. Den Schlusspunkt setzt das düstere Belsatzar nach einem Text von Heinrich Heine. Zu hören sind zudem Liebeslieder und Psalmvertonungen, vorgetragen von dem Bariton (und ehemaligen Limburger Domsingknaben) Nikolaus Fluck zusammen mit dem versierten Liedbegleiter Andreas Frese. 
Die Camerata Musica Limburg unter Leitung von Jan Schumacher interpretieren die Werke von Christian Ridil klangschön und ausdrucksstark. Die Sänger bringen so die vielen Facetten seiner Kompositionen wunderbar zur Geltung. Bei der Volksliedsuite werden sie von den Blechbläsern Gerhard Schultheis, Egbert Lewark, Andreas Weil und Ilja Danilov unterstützt. Und als Sprecher, quasi als kleiner Insiderscherz, ist auch Tonmeister Holger Busse kurz zu hören. 

Reicha Romberg Concertos for two Cellos (Sony)

„Beethoven’s world“ erkundet eine CD-Reihe bei Sony – und dabei handelt es sich, das lässt sich nach den beiden ersten Neuerscheinungen bereits sagen, ohne Zweifel um wichtige Beiträge zum Jubiläumsjahr. 
Mit diesem Aufnahmeprojekt zeigt sich Reinhard Goebel einmal mehr als exzellenter Kenner der Musikgeschichte und des Repertoires. Denn nach Violinkonzerten von Franz Clement (1780 bis 1842), Widmungsträger von Beethovens Violinkonzert, bietet Vol. 2 nun weitere Entdeckungen. 
Den Anfang macht eine irrwitzig virtuose Sinfonia Concertante für zwei Violoncelli und Orchester von Antonín Reicha (1770 bis 1836). Auch das nachfolgende Concertino op. 72 von Bernhard Romberg (1767 bis 1841) stellt allerhöchste Ansprüche an die beiden Solisten; es ist ein knackiges Stück, dass Romberg seinerzeit gemeinsam mit seinem Sohn Karl auf Konzertreisen vorgetragen hat. 
Konzerte für zwei Violoncelli sind rar – insofern sind die beiden Stücke durchaus interessant. Bruno Delepelaire und Stephan Koncz, beide Mitglieder der Berliner Philharmoniker, präsentieren diese Werke höchst ansprechend. Sie musizieren mit der Deutschen Radio Philharmonie Kaiserslautern unter Leitung von Reinhard Goebel, der für dieses Album neben der Reicha-Sinfonia auch noch eine weitere Weltersteinspielung parat hatte: Das Divertisment für Fasching Dienstag von Josef von Eybler (1765 bis 1846), weiland k.u.k. Hofkapellmeister. Das Stück ist höfische Gebrauchsmusik, und dafür ist es gar nicht schlecht. 
Zur Musik gibt es ein Beiheft mit einem durchaus interessanten Text aus der Feder von Reinhard Goebel. Als Autor äußert sich der Musiker gewohnt launig; der wirklich informative Aufsatz wäre allerdings noch besser, wenn Goebel darauf verzichten könnte, die Dinge ins Negative zu verzeichnen. Maßstäbe wandeln sich – das dürfte doch keiner besser wissen als der Dirigent und Musikhistoriker. 

Bach - Redemption (Alpha)

Redemption ist der Titel des neuen Albums, das Anna Prohaska gemeinsam mit der Lautten Compagney Berlin veröffentlicht hat. In einer Zeit, in der aufgrund der Gefahr durch den Corona-Virus Konzerte extrem selten geworden sind, haben sich die Sängerin und die Musiker zusammengefunden, um ausgewählte Stücke aus Kantaten von Johann Sebastian Bach einzuspielen. Das Programm hat zum Ziel, mit Musik in diesen Krankheits- und Krisenzeiten Trost zu spenden, den Hörern emotionale und kontemplative Räume zu eröffnen. 
Die Sopranistin hat dazu weit mehr anzubieten als nur schöne Töne. Allerdings weiß Bach für kranke Seelen eher jenseitigen Trost. „Ich ende behende mein irdisches Leben“ (BWV 57) – diese Vorstellung wird beim modernen Menschen ganz sicher keinen Jubel auslösen. Den meisten Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts dürfte es eher seltsam erscheinen, mit Bach anzustimmen: „Ich habe genug. Drum wünsch ich noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden.“ (BWV 82a) Auch die Aufforderung „Bete aber auch dabei“ (BWV 115) wird wohl bei der Mehrheit Befremden auslösen. 
Inhaltlich also ist das mit der Erlösung so eine Sache. Musikalisch allerdings ist das Album wunderbar. Wie das Sängerquartett – in den Chören wirken neben Anna Prohaska auch Susanne Langner, Christian Pohlers und Karsten Müller mit – „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ (BWV 25) anstimmt, das beispielweise ist ein ganz besonders Kabinettstückchen. Auch Wolfgang Katschner und seine Lautten Compagney weiß zum Ausdruck viel mit beizutragen. Und es ist in der Tat ein Trost, dass das Label Alpha die fertig geschnittene Aufnahme nur wenige Wochen nach der Einspielung digital auf den Markt gebracht hat. 

Sonntag, 12. Juli 2020

Mozart: Requiem (Gramola)

Das berühmte Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart – ganz ohne Pauken und Trompeten, ohne Posaunen und Bassetthörner, ohne Chöre und ohne Solo-Gesang. Geht das? Es geht, wie das Pandolfis Consort mit dieser Aufnahme beweist. 
Das Streichquartett setzt dabei auf ein Arrangement von Peter Lichtenthal (1778 bis 1853). Der österreichische Arzt und Musikfreund hatte 1810 seinen Wohnsitz von Wien nach Mailand verlegt. Er wollte Mozarts Musik in Italien bekannt machen, und bearbeitete daher einige Werke des Hochverehrten für eine kleine Besetzung. 
Das war seinerzeit absolut gebräuchlich; mitunter brachten sogar die Komponisten selbst kurz nach der Erstaufführung die „Hits“ aus Oper und Konzertsaal in eine reduzierte Form, die sich zum häuslichen Musizieren eignete. Musikverleger waren gern bereit, solche Noten zu drucken, denn sie waren sehr gefragt. Kein Wunder – auch wenn man sich das heute, im Streaming-Zeitalter, kaum noch vorstellen kann, aber noch vor gut hundert Jahren musste man Musik selber machen, wenn man welche hören wollte. 
Mozarts Requiem, in der von seinem Schüler Franz Xaver Süßmayr komplettierten Version, „übersetzte“ Lichtenthal ziemlich genau für die reduzierte Besetzung. Lichtenthal ist das Kunststück oftmals kongenial gelungen, mit nur vier Instrumenten alle wesentlichen Details der Vorlage hörbar zu machen. Das Pandolfis Consort zeigt, mit welch erstaunlichem Sinn für Klangeffekte er die Streicher dabei eingesetzt hat. Eine hochinteressante CD, und exzellent musiziert wird obendrein. Bravi!  

Freitag, 10. Juli 2020

Tchaikovsky: Solo Piano Works (Signum Classics)

Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840 bis 1893) soll ein exzellenter Pianist gewesen sein. Auch wenn der Komponist heute vor allem aufgrund seiner Ballette sowie durch die großen Konzerte populär ist, lohnt sich doch auch die Beschäftigung mit den kleineren Klavierwerken Tschaikowskis. Eine Auswahl davon hat Peter Donohoe nun für Signum Classics auf zwei CD eingespielt. „It is inexplicable to me that Tchaikovsky’s solo piano music should remain so infrequently performed, containing as it does all of the composer’s characteristic harmony“, begeistert sich der britische Pianist, „his wonderful melodic gift, his capacity for majestic gesture, magically beautiful moments, immense sadness, and passages of extreme excitement. His piano writing is often orchestral in texture, but also demonstrates the direct but very diverse pianistic influences of Liszt and Schumann, and incorporates in an almost naive way folk-style dance rhythms and melodies from Russia.“ Auf der CD sind all diese Facetten seines Schaffens zu erleben. Donohoe musiziert mit Liebe zum Detail und mit Sinn für Strukturen. So macht er deutlich, wie sehr Tschaikowski Schumanns Musik verbunden war. Er zeigt aber auch, wie persönlich und unverwechselbar die Kompositionen Tschaikowskis sind. Ein interessantes Programm, mit großem Engagement vorgetragen. 

Sonntag, 5. Juli 2020

Versailles - Alexandre Tharaud (Erato)

„Ces compositeurs baroques ont posé les bases de la musique française: impossible d’interpréter Saint-Saëns, Debussy ou Ravel en les dissociant de Couperin et Rameau”, meint Alexandre Tharaud. Er schätzt die Werke jener Väter der französischen Musik sehr, und er spielt sie auch gern – ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass diese Werke zumeist für das Cembalo komponiert worden sind, mit vollkommen anderen technischen und auch klanglichen Möglichkeiten. 
Auf dieser CD lädt er uns ein, Musik zu erleben, die einst im Schloss Versailles erklungen ist. Das Programm reicht von Jean-Baptiste Lully, der dem Hof des Sonnenkönigs zu klanglicher Pracht verhalf, über Meister wie Jean-Henry d'Anglebert, Jean-Philippe Rameau, François Couperin oder Jacques Duphly bis hin zu Claude Balbastre, der erst nach der französischen Revolution starb. Und es stellt musikalische Formen vor, die damals sehr beliebt waren – von diversen Tänzen über die Variation bis hin zum Rondo. Tharaud zeigt, neben all dem musikalischen Prunk, der die Könige umglänzte, auch frühe Beispiele für Programmmusik – Le Rappel des oiseaux beispielsweise von Rameau, La Marche des Scythes von Joseph-Nicolas-Pancrace Royer oder aber Les Ombres errantes von Couperin machen die jeweilige Szene geradezu plastisch deutlich. 
Musiziert wird am modernen Konzertflügel, dessen klangliche Möglichkeiten der Pianist auch voll nutzt. Diese CD ist kein Versuch, historische Klangbilder zu rekonstruieren: Alexandre Tharaud spielt die barocke Musik aus der Perspektive der Moderne. So, wie er das macht, ist das aber interessant – wirklich sehr hörenswert. 


Freitag, 3. Juli 2020

Stay ye angels (Accentus)

„Wenn du aus dir verjagst / All Unruh und Getümmel, / So wirft Sankt Michael / Den Drachen aus dem Himmel.“ So zitiert das Beiheft den Barockdichter Angelus Silesius. Der Erzengel, der den Drachen tötet, ist auch in dem Programm, das die Gaechinger Cantorey unter Leitung von Hans-Christoph Rademann im September 2018 in der Stadtkirche St. Wenzel zu Naumburg aufgeführt hat, präsent. Zwei der Kantaten, Es erhub sich ein Streit BWV 19 und Man singet mit Freuden vom Sieg BWV 149, komponierte Johann Sebastian Bach einst für das Michaelisfest. Die dramatischen Werke, mit Pauken und Trompeten, wählte Rademann als Rahmen für zwei Solokantaten: Gott soll allein mein Herze haben BWV 169, wo Altstimme und konzertierende Orgel in genialer Verflechtung die himmlische Liebe besingen, und Der Friede sei mit dir BWV 158. In dieser Kantate verkündet der Solo-Bass, dass Satan nunmehr gefällt sei. 
Die Gaechinger Cantorey musiziert routiniert in schlanker Besetzung; das Solistenquartett der Aufnahme besteht aus Lenneke Ruiten, Anke Vondung, Benedikt Kristjánsson und Peter Harvey. Den glanzvollsten Part allerdings hat auf dieser CD die Orgel von Zacharias Hildebrandt, gespielt vom Organisten David Franke. Ein herrliches Instrument, und es ist immer wieder eine Freude, es zu hören. 

Latin (Genuin)

Musik aus Lateinamerika erklingt in Konzertsälen hierzulande selten. Dabei gibt es dort eine beeindruckende Musiktradition. Mit seiner neuen CD bei Genuin lädt das Duo Lontano zu einer Entdeckungsreise durch eine Musiklandschaft ein, die in Europa nur teilweise bekannt ist. 
Babette Hierholzer und Jürgen Appell präsentieren Kompositionen für Klavier zu vier Händen, wobei die meisten davon, wie Tango-Klassiker von Carlos Gardel und Astor Piazzolla sowie populäre Melodien wie Bésame mucho oder Malagueña, speziell für diese Besetzung bearbeitet worden sind. 
Zu hören sind außerdem Werke von Louis Moreau Gottschalk (1829 bis 1869. Der Musiker, in New Orleans geboren, wurde durch französisch-kreolische Einflüsse geprägt. Er galt als Wunderkind, und wurde im Alter von 13 Jahren zum Musikstudium nach Paris geschickt. Auch dort machte er durch sein virtuoses Klavierspiel auf sich aufmerksam; Chopin prophezeite dem Jungen, er werde einmal der König der Pianisten sein. 
Gottschalk inspirierte etliche Schüler, wie Maria Teresa Carreño, oder den Geiger José White Lafitte, den er ermutigte, ebenfalls nach Paris zum Studium zu gehen. Auch sie sind auf der CD mit Stücken vertreten, ebenso wie Heitor Villa-Lobos (1887 bis 1959), Ernesto Nazareth (1863 bis 1934) oder Isaac Albéniz(1860 bis 1909)  – der zwar aus Spanien stammt, aber im Kindesalter mehrfach seinen Eltern durchbrannte. So gelangte er bis nach Buenos Aires und nach Kuba. Dem abwechslungsreichen Programm lauscht man gern. Und das Duo Lontano musiziert hingebungsvoll, mit Temperament und auch mit Grazie. 

Reger: Das Werk für Männerchor (Rondeau)

Wer hätte das erwartet? Neben zahlreichen Werken für Orgel, Klavier und Orchester hat Max Reger (1873 bis 1916) auch zahlreiche Werke für Chöre, vor allem auch für Männerchor, geschrieben. So sind Volksliedbearbeitungen in mehreren Liedersammlungen zwischen 1898 und 1900 erschienen. Anschließend beschäftigte sich Reger zudem mit Werken aus Renaissance und Barock; die Zwölf Madrigale bearbeitet für Männerchor entstanden im Auftrag seines Musikverlegers. Neben derartigen Arrangements schuf Max Reger für den Chorgesang immer wieder Originalkompositionen. 
Welch hohen künstlerischen Rang diese Werke haben, das zeigt eine Gesamtaufnahme der Männerchöre Max Regers, die das Leipziger Label Rondeau veröffentlicht hat. Das Ensemble Vocapella Limburg unter Leitung von Tristan Meister interpretiert die anspruchsvollen Lieder gekonnt. Es ist generell erstaunlich, wie viele hervorragende Männerchöre aus den Limburger Domsingspatzen entstanden sind. Wenn die jungen Männer, dem Knabenchor-Alter entwachsen, sich entschließen, einen neuen Chor ins Leben zu rufen, um auch weiterhin gemeinsam zu singen, dann scheint ihnen das ein Herzensbedürfnis zu sein. Auch die durchweg hohe Qualität der Ensembles weist deutlich darauf hin, dass bei den Limburger Domsingspatzen der musikalische Nachwuchs eine exzellente Ausbildung erfährt. Bravi!